Amelie Deuflhard 2. September 2021 Logo_Initiative_print.png

Das Thea­ter der Zukunft

Inklu­sive Orte gesell­schaft­li­cher Trans­for­ma­tion schaffen

„Guten Tag, ich bin eine weiße Frau mit kastanienbraunen kurzen Haaren, trage eine Jeans, eine weiße Hemdbluse, einen leger geschnittenen Blazer und bronzefarbene Stiefeletten.“

Genau so könnten wir einen Vortrag oder ein Interview beginnen, um Zugang für blinde Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung zu schaffen. Die prozesshafte Einbettung von solchen Personenbeschreibungen in unsere Veranstaltungen ist nur ein beispielhaftes Tool, das die Arbeit für mehr Inklusion im Theater auf Kampnagel prägt. Als Teil des „Europe Beyond Access“-Netzwerks möchte Kampnagel in erster Linie Zugänge und mehr Sichtbarkeit für Kunstschaffende mit Behinderung schaffen. Es braucht aber auch bessere Zugänge zum Programm – für eine vielfältige Zuschauendenschaft mit Behinderung. Denn in der Performance- und Theaterszene werden Menschen mit Behinderung sowohl auf als auch vor und hinter der Bühne mehrheitlich ausgeschlossen. Ein wesentlicher Teil der Mission von Kampnagel ist es, Ausgrenzungen zu hinterfragen und Zugänge zum Theater für unterschiedliche marginalisierte Gruppen zu schaffen.

Dahinter steht die Frage, wie ein Kunstort unsere Gesellschaft in all ihrer Diversität möglichst differenziert abbilden kann: auf der Bühne, im Denk- und Diskursraum, in der Institution und im Publikum. Kampnagel arbeitet also daran, nicht nur ein Ort für die Mehrheitsgesellschaft zu sein, sondern sich weit zu öffnen in möglichst viele gesellschaftliche Schichten. Inklusion von Menschen mit Behinderung am Theater ist eine der viel zu lang vernachlässigten gesellschaftlichen Aufgaben, der wir uns als Teil des EBA-Netzwerks widmen.

Neue Formen des Theaters

Theater sind seit ihrer Gründung bürgerliche Einrichtungen, bis heute überwiegend weiß und privilegiert und mehrheitlich von Männern geleitet. Dass Kunstschaffende mit Behinderung dort keinen Platz haben, ist also nicht verwunderlich. Dieser Ausschluss zeigt sich großflächig – auf der Bühne und in den Teams, in der Förderlandschaft, der Ausbildung und in den baulichen Strukturen – und spiegelt gesamtgesellschaftliche strukturelle Leerstellen wider. Über Jahrzehnte galten Theaterstücke mit Menschen mit Behinderung als Sozialprojekte, bekamen kaum Förderung, wurden also nicht als Kunst anerkannt.

In den 1980er und 1990er Jahren etablierte sich das Theater mit behinderten Kunstschaffenden in der Freien Szene durch Theatergruppen und gesellschaftskritische Künstlerinnen und Künstler, die aus der Blackbox flohen. In Fabriketagen, leer stehende Gebäude, Wasserwerke, heruntergekommene Schlösser. Sie verhandelten den Auszug aus den Kunsttempeln, um sich näher an das richtige Leben und eine diverse Gesellschaft heranzubewegen. Kein Zufall, dass in jener Zeit viele der bis heute bestehenden inklusiven Gruppen gegründet wurden: 1987 Das Back to Back Theatre aus Geelong in Australien, 1990 das Theater RambaZamba in Berlin, 1993 das Theater Hora in Zürich, in Hamburg Station 17/Barner16, ein spartenübergreifendes Netzwerk professioneller Kunstschaffender mit und ohne Behinderung. Das Back to Back Theatre arbeitet beispielsweise daran, neue Formen des zeitgenössischen Theaters zu schaffen mit einem Ensemble von geistig behinderten Kunstschaffenden, die aus ihrer Außenseiterposition einen luziden und subversiven Blick auf unsere Gesellschaft werfen und ihre Schwächen schonungslos aufdecken.

Diesen Truppen ist es gelungen, ein Publikum jenseits des Umfeldes von Sozialarbeit zu generieren, weil sie sich konsequent in unterschiedliche künstlerische Szenen vernetzt haben und weil sie mit einer klaren künstlerischen Agenda angetreten sind: „Mit behinderten Darsteller*innen kommt ein Realismus auf die Bühne, der das Nachspielen einer Figur verhindert und den ›schönen Schein‹ auf der Bühne sprengt“, meint Peter Radke, Schauspieler mit Glasknochen. Behinderte Kunstschaffende würden niemals nur als Schauspielerinnen oder Tänzer rezipiert, sondern immer auch als Repräsentanten ihrer Behinderung. Aus dieser Dynamik einen künstlerischen Mehrwert zu schaffen, ist die eigentliche Herausforderung für jene Kunstschaffende.

Auch wenn wir auf Kampnagel immer schon mit Kunstschaffenden mit Behinderung arbeiten, ist in den letzten Jahren eine deutliche Veränderung der Arbeit spürbar. Immer mehr Kunstschaffende mit Disabilities erobern Regie oder Choreografie für sich und beginnen die Diskurse mitzubestimmen. Sie sprechen für sich selbst, für ihre eigene Biografie und beanspruchen zu Recht die Expertise und das Wissen über ihre Körper, ihre Kompetenzen, ihre Arbeit. Sie stellen Erwartungen an die Institutionen, die sich damit auseinandersetzen müssen, welche Bedürfnisse und Möglichkeiten sich aus der Arbeit mit ihnen ergeben und dass es große Leerstellen in den Institutionen gibt, die es zu füllen gilt. Diese Kunstschaffenden widersetzen sich der ihnen zugeschriebenen Opferrolle und stellen selbstbewusst Forderungen zur Veränderung der Theaterlandschaft auf.

„Europe beyond Access“

Auf diese Entwicklung reagierend wurde 2018 das Netzwerk „Europe Beyond Access“ gegründet. Als europäisches Kooperationsprojekt soll „Europe Beyond Access“ Kunstschaffende mit Behinderung massiv dabei unterstützen, die Glasdecke des zeitgenössischen Theater- und Tanzsektors zu durchbrechen: Es geht darum, die Karrieren derjenigen, die als behinderte Kunstschaffende immer noch massiv marginalisiert werden, zu fördern, ihren Projekten professionellere Rahmen- und Produktionsbedingungen zu bieten und sie durch aktives Touring international bekannter zu machen.

Mit den sieben Partnerinstitutionen soll ein Netzwerk führender Organisationen geschaffen werden, die sich verpflichten, Arbeiten von Kunstschaffenden mit Behinderung zu beauftragen, zu produzieren und in ihren Hauptprogrammen zu präsentieren. Darüber und über entsprechende Vermittlungsarbeit sollen die Werke von Kunstschaffenden mit Behinderung von dem ihnen zu Unrecht anhaftenden Image des „Laienhaften“ und ihrer Degradierung als „Sozialprojekte“ befreit werden; europäische Zuschauendenschaften und Professionals sollen stärker für die hochqualitativen und innovativen Arbeiten jener Kunstschaffenden interessiert werden.

Die Bühne allein ist nicht genug

Den Fokus auf Arbeiten von und mit Kunstschaffenden mit Behinderungen zu legen, bedeutet in der Praxis vor allem dreierlei: Die Normalisierung von Darstellenden mit und ohne Behinderung auf der Bühne soll durch die Präsentation einer größeren Anzahl von Stücken mit inklusivem Cast erreicht werden, vor allem und gerade auch für ein nicht behindertes Publikum. Außerdem müssen die Barrieren für ein Publikum mit Behinderung herabgesetzt werden.

Was einfach klingt, ist in der Umsetzung allerdings äußerst komplex, denn die Barrierefreiheit muss sich auf alle Aspekte des Betriebs von der Webseite bis zu den räumlichen Zugängen beziehen und die Vielfältigkeit der Communities mit Behinderung widerspiegeln. Zudem werden Veranstaltungen mithilfe von konkreten Werkzeugen, wie Early Bording, relaxed performances, Audiodeskriptionen, Angebote in Leichter Sprache oder Schriftübersetzung und Gebärdensprachen-Übersetzung auch inhaltlich zugänglich gemacht. Um all dies und vieles mehr zu realisieren, müssen die Strukturen im gesamten Betrieb verändert werden.

Es benötigt Fortbildungen, Awareness Teams, Expertinnen und Experten des Alltags mit Behinderung. Mit anderen Worten: Barrierefreiheit endet keinesfalls auf der Bühne, sondern verändert unsere Häuser maßgeblich, beispielsweise in Produktionsabläufen oder Zeitkalkulationen. Diese Arbeit, die durch EBA in einem Netzwerk sehr unterschiedlicher Institutionen vorangetrieben wird, ist ein Pilotprojekt. Es ist der Beginn eines umfassenden und dringend notwendigen Umbaus der Theaterlandschaft, der gerade in Deutschland erst am Anfang steht.

Um Inklusion für alle zu erreichen, also eine Gesellschaft, in der alle Menschen so sein können und akzeptiert werden, wie sie sind, in der ihre unterschiedlichen Bedürfnisse selbstverständlich berücksichtigt und eine Vielzahl von Perspektiven und Erfahrungen als Bereicherung verstanden werden, in der öffentliche Orte nicht mehr nur für einen kleinen homogenen Teil gemacht sind, brauchen
wir eine gesamtgesellschaftliche Transformation. Theater können und sollten dabei eine Vorreiterrolle übernehmen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2021.

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