Katja Urbatsch & Theresa Brüheim 5. Mai 2021 Logo_Initiative_print.png

Nicht­aka­de­mi­ker­kin­der empowern

Katja Urbatsch von ArbeiterKind.de im Gespräch

Nur 21 von 100 Abiturienten aus Nichtakademikerfamilien beginnen heute ein Studium – im Gegensatz zu 74 Akademikerkindern. Hier setzt ArbeiterKind.de an: Gemeinsam mit 6.000 Ehrenamtlichen in bundesweit 80 lokalen ArbeiterKind.de-Gruppen ermutigt Gründerin und Geschäftsführerin Katja Urbatsch Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne Hochschulerfahrung dazu, als Erste in ihrer Familie zu studieren, und unterstützt sie auf ihrem Weg vom Studienbeginn bis zum erfolgreichen Studienabschluss und Berufseinstieg. Theresa Brüheim spricht mit ihr über Bildungsmobilität und strukturelle Hürden.

Theresa Brüheim: Frau Urbatsch, wie kamen Sie auf die Idee, ArbeiterKind.de zu gründen?

Katja Urbatsch: Ich bin selbst die Erste aus meiner Familie, die einen Hochschulabschluss erreicht hat und kenne daher nicht alle, aber einige der Hürden aus eigener Erfahrung. Als ich vor 13 Jahren ArbeiterKind.de gegründet habe, war es noch überhaupt kein Thema, was es bedeutet, als Erste oder Erster aus der Familie zu studieren. Viele Informationen und auch Unterstützung z. B. für Stipendienbewerbungen musste ich mir mühsam zusammensuchen. Andere sollen es einfacher haben als ich. Daher möchte ich ermutigen und unterstützen.

Sie kennen nicht alle, aber einige Hürden aus eigener Erfahrung. Welche sind das?

Erst mal muss man auf die Idee kommen, dass man überhaupt studieren kann. Ich hatte in meinem Umfeld keine Vorbilder, die studiert haben. Dann kommt man häufig nicht auf die Idee, denn die Umwelt spielt eine große Rolle – was bekommt man vorgelebt und welche Optionen sieht man darin für die eigene Zukunft. Wenn alle eine Ausbildung gemacht haben, dann kommt schnell der Gedanke: Das ist der Weg – und alle empfehlen diesen.

Selbst wenn man die Idee zu studieren hat, fehlen im Umfeld von nichtakademischen Familien häufig Menschen, die man fragen kann und die Erfahrung mitbringen. Man muss sich in der Regel allein durchkämpfen und die Entscheidung treffen. Das ist eben schwierig. Und das ist allein der Start.

Weiter geht es mit der Finanzierung, ein ganz, ganz wichtiges Thema. Ins Studium muss man erst mal investieren. Bei einer beruflichen Ausbildung bekommt man Geld. Die Studienfinanzierung ist etwas, was viele vom Studium abhält, weil sie Sorgen haben, dass sie sich das nicht leisten können. Sie wollen den Eltern nicht auf der Tasche liegen oder sie haben Angst, Schulden zu machen. Da versuchen wir dann aktiv, mehr aufzuklären.

Aus Erfahrung – ich habe als Erste in der Familie studiert – kann ich sagen, dass eine weitere Hürde auch darin besteht, nicht zu wissen, was man dann mit dem Studium machen soll. Viele Studiengänge, insbesondere in den Geisteswissenschaften, führen nicht zu dem einen klaren Berufsweg – das sollen sie ja auch gar nicht.

Ja, auf jeden Fall. Eine berufliche Ausbildung ist sehr praxisorientiert, da weiß man genau, was man hinterher macht – das kann die Familie und man selbst gut verstehen. Ein Studium ist häufig sehr abstrakt und man weiß nicht genau, was macht man hinterher und wie viel Geld verdient man? Und es ist eben für viele, die aus nichtakademischen Familien kommen, ein Risiko zu studieren. Das ist ein Schritt ins Ungewisse. Deswegen werden viele, die als erste aus ihrer Familie studieren, Lehrerin oder Lehrer, da das der Erste akademische Beruf ist, den man kennt. Verbreitet sind auch z. B. BWL und Ingenieurwissenschaften – das ist verständlicher.

Wirft man einen Blick in den Hochschulbildungsreport 2020, sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: 21 von 100 Nichtakademikerkindern beginnen mit einem Studium, 8 von 100 Nichtakademikerkindern erwerben den Mastertitel, eines den Doktortitel. Im Vergleich dazu stehen folgende Zahlen von Akademikerkindern: 74 von 100 beginnen ein Studium, 45 erwerben den Masterabschluss, 10 den Doktortitel. Darin wird auch noch mal deutlich, wie hoch die genannten Hürden tatsächlich sind. Wo setzt nun ArbeiterKind.de an, um diese zu verringern?

Wir gehen vor allem mit unseren ehrenamtlichen Gruppen – wir haben 80 lokale Gruppen in Deutschland – in die Schulen und organisieren dort Informationsveranstaltungen zum Thema Studium. Dahinter steht die Idee, dass ich mich sehr gefreut hätte, wenn in meiner Schulzeit jemand in meine Schule gekommen wäre und mir etwas übers Studium erzählt hätte, weil eben die Vorbilder in der Familie fehlten. Unsere Freiwilligen berichten dabei von ihren eigenen Bildungsgeschichten und geben Informationen weiter, um mehr Schülerinnen und Schüler aus nichtakademischen Familien zu ermutigen, ein Studium zunächst einmal in Betracht zu ziehen und sich dann auch zu trauen, wenn sie das möchten. Auf diesem Weg versuchen wir, die Zahlen zu verändern.

Dann helfen wir auch beim Übergang ins Studium und während des Studiums. Mittlerweile geht das sogar bis in den Berufseinstieg. Inzwischen haben wir Doktoranden in den Gruppen. Unsere Freiwilligen nehmen dabei die Rolle der „älteren Geschwister“ ein: Sie sind Ansprechpersonen und Vorbilder, die man im eigenen Umfeld nicht hat, mit denen man darüber sprechen kann und die zeigen, wie es gehen kann. Und dass ein Studium gar nicht so ein großes Risiko ist, wie es anfangs erscheint.

Das ist das, was wir tun können, aber es gibt natürlich auch strukturelle Hürden. Dabei sind uns häufig die Hände gebunden. Ein Beispiel ist die Studienfinanzierung. Die ist sehr abschreckend, denn häufig wird dabei nicht die tatsächliche Situation von Nichtakademikerkindern berücksichtigt. Auch die Behandlung an der Hochschule zählt dazu: Dort herrscht eine Kultur, die hochakademisch und sehr voraussetzungsreich ist. Da gibt es insbesondere in den Strukturen noch sehr, sehr viel zu tun.

Sie gehen vor allen Dingen für Informationsveranstaltungen in Schulen. Wie setzen Sie dies aktuell in der Pandemie um?

Da wir aktuell nicht in die Schulen gehen können, machen wir Online-Veranstaltungen, die wir gemeinsam mit unseren Ehrenamtlichen entwickelt haben und anbieten. Wir setzen auch verstärkt auf Social Media.

Das läuft gut. Aber natürlich erreichen wir nicht die gleiche Anzahl an Schülerinnen und Schülern, wie wenn wir physisch in die Schulen gehen.

Können Sie schon abschätzen, inwieweit durch das derzeitige Homeschooling der Studieneintritt für Nichtakademikerkinder noch mal erschwert wird?

Das ist auf jeden Fall so. Die Benachteiligung beginnt schon in der Schule, das Homeschooling macht es noch mal deutlicher: Es geht es auch darum, wer hat welche Ausstattung, wer hat welche Bedingungen zu Hause, wer hat ein eigenes Zimmer, wen können die Eltern unterstützen? Fehlt das, ist man benachteiligt. Und dann ist man natürlich noch mehr allein gelassen und überfordert, wenn es ums Thema Studium geht. Das führt häufig dazu, dass man eher was Sicheres machen möchte. In nichtakademischen Familien ist es eben die berufliche Ausbildung, die Sicherheit verspricht. Viele können ihr Potenzial gar nicht entfalten.

Generell ist es aber für alle Studierenden aktuell sehr schwierig, insbesondere für die Erst- und Zweitsemester, das merken wir schon. Viele, die ihr Studium angefangen haben, sind nicht vor Ort, sondern noch zu Hause – zum Teil im Kinderzimmer. Das fehlende akademische Umfeld und die nötige Infrastruktur machen es besonders schwer.

Wie groß sind die Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern noch? Die DDR war ein Arbeiter- und Bauernstaat. Entsprechend viele Nichtakademikerfamilien gab und gibt es noch. Inwieweit können Sie unterschiedliche Bedarfe – auch durch Ihre lokalen Gruppen – feststellen?

Wir sehen da noch starke Unterschiede. Aber es liegt auch daran, dass wir aus Westdeutschland kommen und eine westdeutsche Ehrenamtskultur haben. In Ostdeutschland war das Ehrenamt meines Wissens anders strukturiert. Die Bürgerinnen und Bürger engagieren sich auch, aber häufig eher in der Nachbarschaftshilfe oder im traditionellen Ehrenamt, wie z. B. bei der Freiwilligen Feuerwehr. Die Form von Ehrenamt, die wir anbieten, ist immer noch recht neu.

Entsprechend viele sind noch skeptisch und es ist für uns schwieriger, einen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Generell merken wir auch, es ist schwerer, in die Schulen zu kommen. Es gibt mehr Skepsis und Misstrauen, wenn es um solche Angebote geht. Wir müssen stärker um Vertrauen werben. Aber generell glaube ich schon, dass gerade der Bedarf riesengroß ist – vor allem weil die Eltern- und Großelterngenerationen das westdeutsche Bildungs- und Hochschulsystem nicht kannten und sich auch orientieren müssen.

Beobachten Sie seit der Gründung von ArbeiterKind.de vor rund 13 Jahren Veränderungen? Wie hat sich die Bildungsmobilität entwickelt?

Die neuesten Zahlen fehlen uns leider noch. Aber in den vergangenen Erhebungszeiträumen haben sie sich leider noch nicht signifikant verändert. Dafür muss man in Deutschland aber auch eine Menge Menschen bewegen.

Was ich schon merke: Vor 13 Jahren waren Studierende der ersten Generation überhaupt kein Thema. Da konnten viele nichts mit anfangen. Heute gibt es ein großes Bewusstsein für diese Zielgruppe – dazu haben wir auch beigetragen. Es gibt eigene Stipendien für diese Zielgruppe, viele Initiativen und auch Fördergelder. Auch der Begriff hat sich in der Hochschulwelt etabliert. Immer mehr Menschen, auch Politiker, sprechen offen darüber, dass sie selbst die Ersten in ihrer Familie sind, die studiert haben. Die Kultur verändert sich: Wir sprechen heute selbstverständlich über ein früher sehr großes Tabuthema. Es gibt ein Bewusstsein für die Problematik und für die Herausforderungen für Studierende der ersten Generation.

Aber der nächste Schritt fehlt noch. Es kann nicht bei der Rhetorik bleiben: „Ja, wir müssen die Nichtakademikerkinder empowern.“ Es müssen noch mehr Taten folgen. Die Strukturen müssen analysiert werden und strukturelle Hürden abgebaut werden. Es kann nicht nur darum gehen, dass die sich anpassen, die aufsteigen und studieren wollen. Wir als Gesellschaft müssen uns fragen: Wo bauen wir Hürden auf, die nicht notwendig sind und die aufhalten? Und wie können wir diese abbauen?

Worin liegt für Sie dabei die konkrete gesamtgesellschaftliche Bedeutung?

Die Zahlen zeigen ein ganz klares Ungleichgewicht. Da wird deutlich, dass es nicht um Potenzial und Talente geht, sondern dass die soziale Herkunft über den Bildungsweg entscheidet. Dadurch verschenken wir viel Potenzial in unserer Gesellschaft. Da meldet sich auch das Gerechtigkeitsempfinden: Es kann nicht sein, dass es nicht auf das Potenzial eines Kindes ankommt, sondern nur auf das Elternhaus. Eigentlich kann man schon bei der Geburt sagen, ob das Kind studiert oder nicht. Das ist ungerecht und kann nicht sein. Jedes Kind sollte sein Potenzial unabhängig vom Bildungshintergrund und den finanziellen Möglichkeiten des Elternhauses entfalten können.

Die Struktur von ArbeiterKind.de basiert weitestgehend auf Ehrenamt. Welche Unterstützung wünschen Sie sich von der Politik bei Ihrem Anliegen?

Wir bekommen bereits Unterstützung, unter anderem Fördergelder vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aber die Politik muss noch stärker daran arbeiten, diese strukturellen Hürden abzubauen – unter anderem beim Thema Bafög. Nichtakademikerkinder brauchen von Beginn an eine sichere Studienfinanzierung, z. B. auch im Zusammenspiel von Hartz IV und BAföG. Da merkt man schnell, dass es noch große Probleme gibt. Vielleicht ist es auch nicht vorgesehen, dass jemand, der Sozialhilfe bekommt, studiert. Zumindest hat man das Gefühl, dass da noch nicht intensiv drüber nachgedacht wurde, wie das funktionieren kann.

Ein anderes Thema, das uns gerade sehr beschäftigt, sind die immer höher werdenden Semestergebühren, die aber im Bafög gar nicht vorgesehen sind. Diese verwaltungstechnischen Hürden finanzieller Art zu überprüfen und zu überdenken, würde die Chancen von Nichtakademikerkindern erheblich verbessern.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2021.
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