Anne Weber: Annette, ein Heldinnen-Epos
Fällt das Wort Epos, bin ich in Gedanken direkt wieder im gymnasialen Klassenzimmer: Ich beuge meinen Kopf über Verse in Latein – verfasst von Dichtern über die Triumphe von Helden. Zeit wurde es also, dem Wort Epos eine neue Assoziationskette zu geben – und das ist Anne Weber mit „Annette, ein Heldinnen-Epos“ ganz wunderbar gelungen. Ganz einfach und leicht gleitet man von Vers zu Vers und macht nur Pause, um wiederholt den Kopf zu schütteln über das unfassbar bewegte Leben der Heldin Anne Beaumanoir, genannt Annette.
Ja, eine Heldin! Und was für eine: Annette wurde 1923 in der Bretagne geboren, wuchs in einfachen Verhältnissen auf – und schloss sich schon als Jugendliche der Résistance an, um unter anderem zwei jüdische Kinder zu retten. Die Schilderung von Letzterem geht unter die Haut und gehört zu den eindrücklichsten des Buches. Nach dem Krieg geht Annette nach Marseille und beginnt, sich für die algerische Unabhängigkeitsbewegung zu engagieren, was ihr 1959 eine Verurteilung zu zehn Jahren Gefängnis einbringt. Sie kann aber entkommen und flieht nach Tunesien, später Algerien. Und dabei opfert sie unendlich viel – unter anderem auch die Möglichkeit, ihre Kinder aufwachsen zu sehen.
Man möchte Annette fragen: Was treibt dich an, es so weit zu treiben? Und sind deine Opfer es wert? Und das kann man auch, denn Annette ist eine „wahre“ Heldin. Das meint: Sie ist keine fiktive Protagonistin, sie lebt noch heute – und zwar wieder in Frankreich. Aber nicht nur das Fehlen erzählerischer Fiktion macht sie zu einer „wahren“ Heldin, sondern auch Anne Webers ausgewogene Darstellung ihrer Protagonistin: Mit einer sprachlichen Leichtigkeit inklusive deutsch-französischem Wortwitz, die aktuell noch Ebenbürtiges sucht, gelingt es der Autorin Annette zwischen Ruhm und Ehre sowie Verlusten und Entbehrungen darzustellen.
Fällt nun das Wort Epos, dann denke ich auch an Heldinnen – und zwar gleich an zwei: eine Freiheitskämpferin mit unbändiger Stärke und eine Schriftstellerin mit gesellschaftlicher Wirkungskraft.
Theresa Brüheim