Andreas Kolb 31. März 2021 Logo_Initiative_print.png

„Manch­mal kom­men die Ämter zur Frau“

Syl­via Löhr­mann im Porträt

Unter dem Label „#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland“ werden dieses Jahr bundesweit rund tausend Veranstaltungen ausgerichtet – darunter Konzerte, Ausstellungen, Symposien, Podcasts, Video-Projekte, Theater und Filme. Ziel des Festjahres ist es, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Die Generalsekretärin des Vereins „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ist keine Unbekannte: Sylvia Löhrmann, Bündnis 90/Die Grünen-Politikerin der ersten Stunde, ehemalige stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen und Ministerin für Schule und Weiterbildung, hat sich bereits im Rahmen ihrer KMK-Präsidentschaft für Erinnerungskultur engagiert. Die neue Aufgabe als Generalsekretärin war nicht geplant. Aber: „Manchmal kommen die Ämter eben auch zur Frau“, lacht sie. „Bei diesem Angebot konnte ich nicht widerstehen und habe sofort zugesagt.“

Am 11. Dezember 321 n. Chr. hatte der römische Kaiser Konstantin ein Edikt erlassen, das festlegte, dass Juden Ämter in der Stadtverwaltung Kölns bekleiden dürfen. Dieses Gesetz belegt, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind. Eine frühmittelalterliche Handschrift dieses Dokuments befindet sich heute im Vatikan und ist Zeugnis dieser mehr als 1.700 Jahre alten jüdischen Geschichte. Generalsekretärin Löhrmann legt Wert darauf, dass #2021JLID keinesfalls den Charakter eines weiteren Gedenkdatums bekommen soll, etwa neben dem 27. Januar und dem 9. November: „Die Shoah als größtes Menschheitsverbrechen bleibt Teil und Auftrag der deutschen DNA. Selbstverständlich gilt weiterhin das ‚Nie wieder‘.“ Trotzdem sei gerade aus der jüdischen Szene der Wunsch formuliert worden: „Wir wollen nicht nur auf diese zwölf Jahre schauen. Das Judentum ist für Deutschland viel mehr, wir wollen zeigen und würdigen, welche bedeutsamen Spuren jüdische Kultur und jüdisches Leben in diesen 1.700 Jahren hinterlassen hat.“ „Das Judentum ist konstitutiv für Deutschland“, bekräftigt Löhrmann.

Als deutsch-jüdische Initiative möchte der Verein unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland ein Angebot für die gesamte Gesellschaft ausgestalten und mit dem Festjahr eine Plattform zum Mitmachen bieten. „Das ist der Auftrag, den der Verein sich gegeben hat und den wir jetzt durch vielfältigste Projekte mit Leben füllen“, so Löhrmann. Die Publizistin Marina Weisband bringt die Idee von #2021JLID in dem Buch „Wir sind da!“ von Uwe von Seltmanns zum Festjahr auf den Punkt: „Ich will nicht mehr Erinnerung an jüdisches Leben in Deutschland. Ich will mehr jüdisches Leben in Deutschland.“

Bevor Sylvia Löhrmann die Politik zu ihrem Hauptberuf machte, war sie – nach einem Englisch- und Deutschstudium für das Lehramt an der Ruhr-Universität Bochum – seit 1982 Referendarin an verschiedenen Duisburger Schulen. Von 1984 bis 1995 wirkte sie als Lehrerin an der Städtischen Gesamtschule Solingen und war unter anderem Vorsitzende des Lehrerrates und Mitglied der erweiterten Schulleitung. Wenn man von heute aus auf ihre damalige Berufswahl schaut, dann war „Lehramt“ Anfang der 1980er Jahre keineswegs eine „sichere Bank“. Damals war ein Lehramtsstudium eine Investition in eine unsichere Zukunft, es gab Zulassungsbeschränkungen und lange Wartelisten für wenige Lehrerstellen. Löhrmann erinnert sich: „Ich wollte eigentlich Dolmetscherin oder Lektorin werden und nach Skandinavien auswandern.“ Bei ersten Praxiserfahrungen in der Schule habe es dann aber so „gut gefunkt“ zwischen den jungen Menschen und ihr, dass sie ihre Pläne geändert habe.

„Kinder und Jugendliche beim ganzheitlichen Lernen zu begleiten, damit sie als starke Persönlichkeiten ihren Weg in ihr weiteres Leben finden, das ist wirklich eine ganz, ganz spannende Aufgabe. Von Anfang an hat die Frage der kulturellen Bildung dabei für mich eine große Rolle gespielt. Im Grunde liegt die intensive Auseinandersetzung mit dem Judentum auch an der guten Schulbildung, die ich selbst in Essen erfahren habe. Wir hatten eine ganz tolle Geschichtslehrerin: Sie ist mit uns in Klasse 10 – das war damals eine Seltenheit – in die Essener Synagoge gegangen, als die Themen ‚Drittes Reich und Nationalsozialismus‘ auf dem Lehrplan standen. Kürzlich war ich während der Online-Eröffnung der Ausstellung des Landschaftsverbandes Rheinland zum Festjahr wieder in genau dieser Synagoge. Ein schöner Erinnerungsmoment! Das Thema hat mich seither nicht mehr losgelassen: nicht als Lehrerin, nicht als Politikerin – und so schließt sich mit meiner jetzigen Aufgabe der Kreis.“

Der Gefahr, dass die pädagogische Leidenschaft in Unterrichtsroutine umschlägt, wenn man Jahr für Jahr den gleichen Stoff mit der gleichen Altersgruppe behandelt, ist Löhrmann dadurch entgangen, dass sie sich früh einer weiteren Leidenschaft widmete: der Politik.

1989 kandidierte sie erstmals für den Solinger Stadtrat und gestaltete auf kommunaler Ebene eine rot-grüne Zusammenarbeit. Womöglich die Blaupause für ihr späteres Wirken in den rot–grünen Koalitionen mit den Ministerpräsidenten Johannes Rau, Wolfgang Clement, Peer Steinbrück und zuletzt als stellvertretende Ministerpräsidentin im Kabinett von Hannelore Kraft. 22 Jahre hat Löhrmann inzwischen hauptamtlich auf Landesebene Politik gemacht. Sie engagierte sich vor allem in der Frauen- und Kommunalpolitik, in der Integrations- und der Bildungspolitik; sie war Fraktionssprecherin und Fraktionsvorsitzende – die Vielfalt dieser Ämter und Interessen ermöglichten es ihr, das gesellschaftliche Ganze nie aus dem Blick zu verlieren. Nach ihrem Rückzug aus der hauptberuflichen politischen Arbeit verfolgt sie das Superwahljahr 2021 vergleichsweise entspannt, auch wenn sie bei den konkreten Wahlterminen „natürlich mitfiebere“.

Sylvia Löhrmanns neu geweckte Leidenschaft ist das Gärtnern. Ohne einen Koalitionspartner fragen zu müssen oder den Finanzminister, kann sie in ihrem Garten schalten und walten, wie sie möchte. Sie kann zusehen, wie das Leben immer wieder neu entsteht und gedeiht. Gefragt nach dem Sinn des Lebens, wird Sylvia Löhrmann nachdenklich: „Es gibt einen Wunsch und ein Bedürfnis nach Spiritualität und nach der Antwort auf die Frage: ‚Woher kommen wir und was macht diese Welt aus, diese Schöpfung und diese Erde, die wir bewahren müssen‘.“ Man spürt, dass die Wurzeln ihres politischen Engagements auch in ihrer katholischen Erziehung liegen – Löhrmann besuchte wie ihre Schwester das katholische Mädchengymnasium Beatae Mariae Virgines (B.M.V.) in Essen. Zur Krise der Kirche sagt sie: „Das treibt mich um. Dabei denke ich dann auch an die wichtige Rolle, die die Kirche z. B. in der Flüchtlingspolitik spielt. Da ist auf die Kirchen Verlass, weil sie nicht ausgrenzen, weil sie nicht gesagt haben, das Boot ist voll. Ich erinnere mich auch an den Absturz der Germanwings-Maschine im Jahr 2015, als 16 Schülerinnen und Schüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See zu den Opfern gehörten. Obwohl sicher ein Teil der Eltern und der Schulgemeinde nicht konfessionell gebunden war, haben Kirche und Glaube den Trauernden Halt gegeben. Das war in den Gottesdiensten spürbar. Aber die Institution Kirche ist gefordert, sich zu verändern, das ist der entscheidende Punkt.“

Fehlt nur noch, dass Sylvia Löhrmann ein Ehrenamt bei Maria 2.0 übernimmt. „Man kann nicht alles machen“, sagt sie augenzwinkernd. „Aber der Gedanke, ich könnte dabei sein, ist durchaus nachvollziehbar.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2021.

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