Susanne Keuchel 4. März 2021 Logo_Initiative_print.png

Rück­kehr zu einer mora­li­sie­ren­den Gesellschaft?

Das Fun­da­ment für eine Koexis­tenz unter­schied­li­cher Milieus bröckelt

Mit der sogenannten 1968er Bewegung begann ein Prozess der Liberalisierung und Technokratisierung. Gesellschaftliche Normen und Werte wurden hinterfragt. Dies führte wiederum zu einer Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft, zu einer Pluralität an Lebensstilen und Milieus mit eigenen Wertekonstellationen. Mit der zeitgleich wachsenden technokratischen Grundhaltung in der Gesellschaft, stärker wissenschaftliche Erkenntnisse als Werte für politische Entscheidungen heranzuziehen, entstand zugleich ein gewisses Fundament für eine Koexistenz unterschiedlicher Milieus.

Diese technokratische Grundhaltung wird aktuell auch kritisch betrachtet. Denn der Nimbus einer wissenschaftlich-technischen Argumentation, die zu konkreten Handlungsnotwendigkeiten führt und sozusagen alternativlos ist, lässt politisch-demokratische Willensbildung außer Acht. Zugleich lassen sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen durchaus unterschiedliche Handlungsstrategien ableiten, vor allem unter Berücksichtigung unterschiedlicher Fachdisziplinen, wie dies jüngst auch die Pandemie zeigt, wo Virologen, Ärzte, Familien- oder Wirtschaftsexperten zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.

Als Moral wird die Gesamtheit verbindlicher ethisch-sittlicher Normen, Grundsätze und Werte verstanden, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft oder auch von Milieus regulieren. Als „moralisierend“ handelt der Einzelne oder eine Gruppe, wenn diese oder der Einzelne den Anspruch verfolgt, dass die eigenen Werte und Positionen nicht nur für sich selbst als richtig erachtet werden, sondern für alle als richtig gelten sollen, beispielsweise wenn der- oder diejenige, die oder der aus Überzeugung ein Kopftuch trägt, die eigene Sprache gendert oder sich vegan ernährt, von anderen fordert, dies auch zu tun. Moralisiert wird aktuell bei vielen gesellschaftlichen Themen wie Gender, Diversität oder dem Umgang mit der Corona-Pandemie. Moralisierung spielt auch eine Rolle bei dem aktuellen Phänomen des „Cancel culture“.  Beunruhigend sind dabei neue Allianzen von Moralisierung und Technokratisierung in der politischen Argumentation. Beispielsweise werden im Umgang mit der Corona-Pandemie auf der einen Seite Statistiken zur Verbreitung des Virus, hier vor allem der sogenannte Inzidenzwert als Richtwert für notwendige, nicht verhandelbare Handlungsstrategien herangezogen. Zugleich wird diese Argumentation mit einer moralisierenden Argumentation verbunden: der Solidarität, dem „Leben retten“, dem „herzlich und vernünftig handeln“, so jüngst die Bundeskanzlerin. Das heißt im Umkehrschluss, wer bestehende Maßnahmen in Frage stellt, handelt unherzlich, unvernünftig und gefährdet Leben.

Jetzt kann argumentiert werden, dass der Zweck die Mittel heiligt und es hier wirklich keine alternative Handlungsstrategie gibt. Aber so können natürlich auch Gruppen argumentieren, die sich gegen Rassismus oder Klimaerwärmung einsetzen. In einer Demokratie müssen unterschiedliche Positionen verhandelbar sein und Entscheidungen letztlich von den gewählten Repräsentanten getroffen werden, unter Einhaltung des Grundgesetzes, das eben die Akzeptanz einer politischen Opposition, Meinungs-, Religions- und Kunstfreiheit als demokratische Werte schützt. In einer demokratischen Debatte kann mit Werten, Moral und auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen argumentiert werden. Daraus einen Absolutheitsanspruch abzuleiten, ist jedoch eine gefährliche Gratwanderung. Denn moralisieren, seinen Mitmenschen Werte oder Prinzipien aufzuerlegen und damit das Aushandeln ihrer Positionen einzuschränken, ist letztlich eine Form von Gewalt in einer Demokratie. Vielleicht muss eine Gesellschaft, die lange Zeit sehr liberal und technokratisch argumentiert hat, erst wieder lernen moralische Debatten zu führen.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2021.

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