Johann Hinrich Claussen & Joachim Hake 4. März 2021 Logo_Initiative_print.png

#anstand­di­gi­tal

11 Gebote zu Hal­tung und Respekt im Netz

Empörungen unterscheiden, nicht richten, Abstand halten und sich nicht gemein machen … so beginnen unsere 11 Gebote zu Haltung und Respekt im Netz. Sie vermeiden das Ausrufezeichen, sind keine präpotenten Imperative, sondern Infinitive, die das Selbstverständliche fordern, das in der digitalen Kommunikation im Netz leider viel zu häufig vergessen wird. Wir klagen nicht, sehen aber Anlass, in den Fragen von Haltung und Respekt auf mehr Klarheit, Unterscheidung und Entschiedenheit zu drängen. Wir wünschen uns eine Zivilisierung des Netzes, die durch das Recht allein nicht geleistet werden kann. Das letzte Gebot lautet denn auch: „Anstand und Recht unterscheiden“.

An unseren 11 Geboten haben in einem gut einjährigen Diskussionsprozess viele Menschen mit Anregungen, Beiträgen und Ideen mitgewirkt. In Workshops, durch Fragebögen, Video-Statements und Veranstaltungen – mehr auf anstanddigital.de – wurde über die Frage nachgedacht, welche Anstandsgebote und -regeln für eine demokratische und digitale Kultur grundlegend sind. Welche Maximen helfen uns im Netz zu mehr Anstand, der eigentlich selbstverständlich sein sollte?

Dabei geht es nicht um „muffige Benimmregeln“ oder Etikette im Netz und auch nicht um jene Fragen, die das Recht lösen muss, sondern um jenen mittleren Korridor, in dem wir ohne Anstand, Respekt und Haltung im Netz nicht auskommen. Die Gebote und ihre Begründungen sind auf einen ebenso sanften wie widerständigen Ton gestimmt. Zivilisierung im Netz braucht Zeit und Geduld, Wiederholung, Übung, Praxis. Und das gemeinsame Gespräch.

Die mit den 11 Geboten angezielten Veränderungen stellen sich nicht von jetzt auf gleich ein, sondern gehen auf Verwandlungen des kulturellen Habitus zu und haben weniger die moralische Innerlichkeit als die äußerlichen Umgangsformen im Blick. Damit stehen sie – darauf wies Ijoma Mangold bei der Präsentation am 9. Februar hin – in der Linie jener „Verhaltenslehren der Kälte“ der 1920er Jahre, von denen Helmut Lethen in seinem gleichnamigen Buch sprach.

Gegen die Empörungsüberhitzungen des Internets setzen die 11 Gebote auf moralinfreie und besonnene Abkühlungen, auf die Kraft der Unterscheidung und die kleinen Distanzen. Sie räumen in bestimmten Fällen das Recht auf Anonymität ein, widersprechen aber deutlich allen Versuchungen zur falschen Panzerung oder bösen Versteckspielen. Dagegen setzen sie einen berührbaren Ernst, der in christlicher Absicht das Vorletzte des Urteilens – nicht richten – ebenso betont wie die Freude an den spielerischen Möglichkeiten des Netzes. Sie achten auf die eigene Scham und die der anderen. Von moralischen Schuldzuweisungen halten sie wenig.

Die 11 Gebote sind Niederschlag eines gemeinsamen Lern- und Gesprächsprozesses und Ausdruck der nüchternen Einsicht, dass den vielen Respektlosigkeiten und emotionalen Entgleisungen im Netz etwas entgegengehalten werden muss. Dass die Kraft von Listen unterschätzt wird, davon sind wir ebenso überzeugt, wie davon, dass wir ohne Gebote des Anstands nicht auskommen, an denen wir unser Verhalten zu messen und zu orientieren haben.

Diese Liste hat nichts Spektakuläres, und wirklich Neues findet sich in dieser Liste nicht. Und das ist gut so! Originell kann, soll und darf diese Liste nicht sein. Gebote sind nie originell, sondern eröffnen, wenn sie überzeugend sind, aus dem Inneren des Bekannten heraus Spielräume der Freiheit. Aber: Listen haben dabei eine eigene, oft übersehene Kraft. Ob Gebots- oder Inventurlisten, wir schaffen durch sie eine Übersicht, rhythmisieren und hierarchisieren auch und vor allem unsere täglichen Handlungen. Wer sich an ihnen orientiert, wird kräftiger und widerständiger, wer Listen aufstellt, macht sich ehrlich über seine wirklichen Ressourcen und bändigt seine Unendlichkeitsfantasien, die allzu oft im Träumen und Nichtstun enden.

Von den Leserinnen und Lesern der 11 Gebote wurde vielfach bemerkt, dass das Selbstverständliche ihrer Weisungen so noch nicht gesagt wurde. Ja, auf das „Wie“ kommt es an, und es wäre schön, sie hätten recht. Das unscheinbare „Wie“, seine sanfte wie strenge Genauigkeit hat vielleicht die Kraft, die Kommunikation im Netz menschenfreundlicher und sachlicher werden zu lassen, die Umgangsformen hin zu mehr Respekt und Haltung zu verändern. Wir würden uns sehr darüber freuen, wenn diese Gebote Anstoß für viele Gespräche werden – im Netz oder von Angesicht zu Angesicht.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 03/2021.

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