Thomas Oberender & Ludwig Greven 8. Dezember 2020 Logo_Initiative_print.png

„Auf die Revo­lu­tion von 1989 kön­nen wir stolz sein“

Tho­mas Ober­en­der im Gespräch

Ludwig Greven spricht mit dem in Jena aufgewachsenen Berliner Festspieldirektor, Thomas Oberender, über einen neuen Ton in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur, Angriffe auf die Demokratie heute und sein Buch „Empowerment Ost: Wie wir zusammen wachsen“.

Ludwig Greven: Wir haben seit 15 Jahren eine ostdeutsche Kanzlerin. Wir hatten einen Bundespräsidenten aus der ehemaligen DDR. Weshalb fühlen sich Ostdeutsche dennoch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer unterrepräsentiert, teils sogar stärker als vor einigen Jahren?
Thomas Oberender: Weil sie es sind. Nur ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn Bayern sich mit Österreich vereint hätte und es gäbe danach in Bayern keinen bayerischen General mehr und nur noch 1,5 Prozent der Professoren wären landesweit Bayern. In der Wirtschaftselite wären immerhin noch 4,7 Prozent aus Bayern und in der Kultur 7,3. Sonst überall Chefs aus Österreich. So sieht es im vereinten Deutschland in allen Bereichen aus.

Neben der Übermacht westdeutscher Eliten haben viele im Osten den Eindruck, mit ihrer Lebenserfahrung in der DDR, in der Revolution 1989/90 und der Transformationsperiode danach nicht anerkannt zu werden, wie Sie in Ihrem Buch beschreiben. Treibt das so viele in ihre Abwehrhaltung, auch gegen Migranten, obwohl es denen ja ganz ähnlich ergeht?
Auf diese Anerkennung wartet, glaube ich, niemand mehr. Der Spiegel hat noch 1991 den „Ansturm der Armen“ getitelt: Über- und Aussiedler, Flüchtlinge, Asylanten. Es gibt eine alte Verachtungsgeschichte des Ostens und der Migranten, noch aus Zeiten vor der Öffnung der Mauer, und die setzt sich fort, indem einfach weiter pädagogisiert und belächelt wird, statt hinzuschauen. Ich denke, dass es zwei Formen der Moderne gab, eine westliche und eine östliche, wobei die osteuropäische ein totalitäres System war, ganz klar. Aber beide waren hochindustrialisiert, auf Massenkonsum ausgerichtet und betrachten die Natur als eine Art Warenlager. Beide haben Computer und Raketen gebaut und die alten Eliten abgeschafft. In vielem waren wir einander nicht so fremd.

Aber das Verhältnis war sehr ungleich.
Anfangs nicht, später schon. Westdeutschland wurde für die Ostdeutschen der reiche Verwandte. Und für den ist es im Osten immer noch nicht so richtig schön. Entweder die angeblich zurückgebliebenen Menschen stören oder die Plattenbauten. Dagegen hilft nur Empowerment, Ermutigung und Ermächtigung. Wir haben im letzten März den Palast der Republik symbolisch wieder aufgebaut, weil die Wende von 1989 die erste Revolution des 21. Jahrhunderts war. Die deutsche Einheit wurde dort beschlossen.

Ließe sich diese Erfahrung der Demütigung heilen, indem man überall eine Quote für Ostdeutsche einführte, analog zu einer Frauen-quote?
Das wäre ein Signal. Denn es gab ja eine Quote im Osten. Nur wurde die von westdeutschen Verwaltungen durchgesetzt, die dafür sorgten, dass in den Leitungspositionen Westdeutsche eingestellt wurden. So übrigens auch die Richter aus Baden-Württemberg, die noch 30 Jahre nach der Wende am Oberverwaltungsgericht Bautzen die Querdenkerdemo in der Innenstadt von Leipzig genehmigt haben. Weil sie der Meinung sind, dass Corona so zu behandeln ist wie eine Grippe und diese Falschmeldung verantworten sie im Sächsischen Verwaltungsblatt. Solche Ereignisse haben mit dem Verlauf der Wiedervereinigung mehr zu tun als mit der DDR.

Es geht um konkrete Machtfragen. Wenn mehr Frauen und mehr Ostdeutsche Führungspositionen bekleiden sollen, müssen Männer und Westdeutsche zurückstecken.
Was heißt zurückstecken? Frauen sind die Hälfte der Bevölkerung, jeder Fünfte ist ostdeutsch. Hier läuft seit Langem viel verkehrt und darüber reden wir ja nun endlich. Genauso wie über die Rechte von Schwarzen oder POC und deren Diskriminierungserfahrungen. Der Untertitel meines Buches heißt: Wie wir zusammen wachsen. Getrennt geschrieben. Zusammen zu wachsen heißt eben nicht, so zu werden wie die Mehrheitsgesellschaft. Ihr gegenüber müssen wir von unserer Geschichte selbst erzählen, von unserer Freude, unserem Widerstand, ich habe das „occupy history“ genannt. Die Parolen von 1989 dürfen wir nicht den Rechten überlassen.

Sie sind ohne Ost-Quote oben angekommen. Sie sind Direktor der Berliner Festspiele, eine Person der kulturellen Elite. Sind Sie nicht ein tolles Beispiel dafür, dass man sich nur anstrengen muss, um gleichberechtigt anerkannt zu werden?
So gerne würde ich Ihnen sagen: Sie haben recht. Aber ich bin dafür auch in den Westen gegangen, nach Bochum, dann nach Zürich, Salzburg. Ich habe hart gearbeitet, und vielleicht habe ich auch einfach Talent. Vielleicht bin ich aber auch nur ein Betriebsunfall. Ich bin der einzige ostdeutsche Intendant in Berlin. Es gab nie Chancengleichheit. Schauen Sie sich die Vermögensverteilung von 1989 bis heute im Ost-West-Vergleich an. Wofür bin ich ein tolles Beispiel? Sicher nicht dafür, dass man nur die Ärmel hochkrempeln muss.

Geht Ostdeutschen die Ellenbogenmentalität und der Ehrgeiz ab, um sich durchzusetzen?
Sie provozieren, oder? Sonst wäre das eine unverschämte Frage. Dieses ganze Ellenbogenbild ist ja ein Inbild des wirklichen Elends, das unsere Welt auffrisst, das unsere Gesellschaft entsolidarisiert hat, und das ist ungut bis in die Fingerspitzen. Davon haben sich die Ostdeutschen bis heute nicht erholt. 90 Prozent der ostdeutschen Mieten gehen an Westdeutsche. Wow, oder? Dahin haben die Ellenbogen geführt.

Haben wir das nicht 1989 ändern wollen? Und gehen deshalb nicht die jungen Leute freitags auf die Straße? Ich würde sagen: Ja, gegen diese Ellenbogen.

Viele Junge aus dem Osten gehen selbstbewusst ihren Weg. Da merkt man keine Unterschiede mehr. Sollten wir nicht aufhören, auf Kollektive zu schauen?
Ich sehe das anders. Ich sehe viele Junge aus dem Osten, die den Osten und die DDR plötzlich eine Generation später neu entdecken. „Freiraum“ in Leipzig, „Aufbruch Ost“, die „3te Generation Ost“, „88vier“ – sie wollen in unserem Land heute etwas ändern. Sie sehen in der DDR und Wendezeit nicht nur Verlierer, nicht nur Opfer und Täter, sondern auch Kreativität, den kulturellen Schatz ganz anderer Erfahrungen. Das wird uns heilen und verbinden. Kein Schlussstrich kann das.

Sie schreiben, dass Sie sich schon als Jugendlicher in der DDR viel mehr dem Westen kulturell verbunden fühlten. Werden Ostdeutsche erst durch die Zuschreibung dazu gemacht, ähnlich wie Migranten auf ihre Herkunft reduziert werden?
Zum Ostdeutschen wurde ich erst durch die Wiedervereinigung gemacht, als alles, was meine Lebenswelt ausmachte, sich auflöste, sprichwörtlich: von der Dachrinne bis zum Lichtschalter, vom Verkehrsschild bis zu meinen Lehrbüchern. Und dann haben wir ja angeblich alle nur Bananen, Kohl und die D-Mark gewollt und konnten kein Englisch. Richtig dazu gemacht worden sind Leute wie ich jedoch durch die AfD und Pegida, als wir dachten: Es kann doch nicht sein, dass das jetzt Ostdeutschland repräsentiert. Und so habe ich versucht, mir meine eigene Lebensgeschichte wieder zurückzuerobern, die natürlich die von vielen Menschen war – gegen diese Dunkel-Deutschland-Bilder aus Dresden und Chemnitz, aber auch gegen die offizielle Sprache der Politik und Medien in der westdeutsch dominierten Berichterstattung über den Osten.

Sie sprechen von einer kolonialen Matrix. Ist es nicht das gleiche kolonialistische Denken, wenn Linke und Grüne Ostdeutschen pauschal unterstellen, sie seien Nazis?
Robert Habeck hat ja die Ostdeutschen nicht mit Nazis gleichgesetzt, sondern mit einem Entwicklungsland im Sinne der Demokratie, was er, glaube ich, sehr bedauert. Weil diese paternalistischen Gesten heute sofort Alarm auslösen. Und so ist es ihm an sich selber aufgefallen. Denn ja, auch die besten Absichten können zu Bevormundung, Herabsetzung und Entmündigung führen. Das steckt tief drin in allen Menschen. Es gibt nicht den bösen Westen, der in den guten Osten kam. Viele im Osten waren für Infantilisierungen hochgradig empfänglich. Die ehrgeizigen Politiker und Berater aus dem Westen haben sie dann eben an die Hand genommen und eine Kinderstube geschaffen.

Welche Chance sehen Sie, nach all den Jahren noch ein unbefangenes Gespräch zwischen Ost und West in Gang zu bringen?
Oh, das fängt gerade an. Der Ton hat sich verändert. Das ist gut. Edmund Stoiber hat noch 2002 gesagt, es könne ja nicht sein, dass erneut die Frustrierten aus Ostdeutschland bestimmen, wer Kanzler wird. Aber es wächst eine neue Generation heran, die einen anderen Blick auf die ostdeutsche Lebensgeschichte entwerfen. Eine neugierige, auch empathische Perspektive.

Welchen Beitrag dazu können Künstler, Schriftsteller, Theaterleute und Ausstellungsmacher leisten?
Einen großen. Im Gegensatz zur Abschaffung der ostdeutschen Wirtschaft oder Wissenschaft hat die kulturelle Entwicklung nach der Wende an kulturelle Positionen der DDR anknüpfen können. Die Volksbühne in Berlin war für gut 25 Jahre das bedeutendste Theater Europas. Der einzige Ort, wo Wiedervereinigung auf Augenhöhe stattgefunden hat. Unsere Aufgabe heute ist es sicher, den westdeutschen Kanon in der bildenden Kunst gesamtdeutsch zu formen und zu lockern, aber auch den ostdeutschen, der bis heute jene Avantgarde marginalisiert, die der DDR-Staat unterdrückt hat.

Kann die Kultur Avantgarde sein, um nachträglich einen Stolz darauf zu entwickeln, was die Menschen im Osten geschafft haben, in der DDR, in der Revolution und seitdem?
Stolz, das ist auch nur ein Stück Butter auf dem Kopf. Das riecht nach Ostalgie.  Aber unsere Erinnerungskultur sollten wir schon verändern. Die Opfer müssen ein Gesicht bekommen, und die Täter auch. Nur vergessen wir darüber die Erinnerung des Widerstands. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für die Gegenkräfte, ihren Witz und Mut. Wo bleiben die Humanisten, die bewusst in der DDR geblieben sind? Hermann Glöckner, Gabi Stötzer. Auf die Revolution von 1989 können wir stolz sein, wenn wir dem Angriff auf die Demokratie von heute Paroli bieten, insbesondere all den gutbürgerlichen Totengräbern mit ihrer Agenda aus dem „intellectual dark web“. Das hat mit Ost-West nichts mehr zu tun, da geht’s um Weimar.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2020-01/2021

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