Skadi Jennicke & Theresa Brüheim 4. November 2020 Logo_Initiative_print.png

„Viel­falt ist in Kul­tur, Sport und im Sozia­len nur mit­hilfe vie­ler Frei­wil­li­ger realisierbar“t

Enga­ge­ment in der Bür­ger­stadt Leipzig

Die gebürtige Leipzigerin und promovierte Dramaturgin Skadi Jennicke (Die Linke) ist heute Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur in ihrer Heimatstadt. Theresa Brüheim spricht mit ihr über Engagement für Kultur und mehr in der sächsischen Bürgerstadt.

Theresa Brüheim: Inwieweit hat das bürgerschaftliche Engagement in Ihrer Stadt, in Leipzig, Tradition?
Skadi Jennicke: Zahlreiche Partner aus Kultur und Wirtschaft beteiligen sich als unterstützende Initiativen des bürgerschaftlichen Engagements und knüpfen so an die lange Tradition freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements unserer Stadt an. Historische Belege dafür finden sich viele, gerade in der Kultur. So geht die Gründung des Gewandhausorchesters oder des Museums der bildenden Künste auf die Initiative der Bürgerschaft zurück. In seiner Geschichte kannte die Stadt über 1.000 Stiftungen, die in den unterschiedlichsten Bereichen der Stadt und ihrer Bevölkerung dienten.

Bürgerliches Engagement kann alle Bereiche des öffentlichen Lebens mitgestalten. Wir dürfen das nicht auf nachgeordnete Unterstützung staatlicher Institutionen reduzieren. Wichtige soziale Bewegungen insbesondere des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben in Leipzig ihren Ursprung, am bedeutendsten dürfte die Arbeiterbewegung in all ihren Facetten sein. Auch hier reichen die Traditionslinien in die unmittelbare Gegenwart.

Die Stadt Leipzig widmet sich 2021 mit dem Themenjahr „Soziale Bewegungen“ genau diesen Traditionslinien, beispielsweise dem bürgerlichen Liberalismus, der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung, um gemeinsam mit den Akteuren der Stadtgesellschaft zu erörtern, welche innovativen Ideen unsere Stadtgesellschaft vorangebracht haben. Wir wollen herausfinden, wie soziale Bewegungen subjektive und kollektive Identität stiften, wie soziale Bewegungen heute entstehen und warum sie zu oft so wenig Nachhaltigkeit entfalten.

Und wie ist es um das Engagement in der Gegenwart bestellt?
Dass das Ehrenamt in der Stadtgesellschaft auch heute eine bedeutende Rolle spielt, zeigen die Ergebnisse der aktuellen kommunalen Bürgerumfrage. Jede fünfte Person der Befragung engagiert sich in irgendeiner Weise ehrenamtlich, jede vierte äußert Interesse an einer ehrenamtlichen Tätigkeit. Diese Zahl zeigt, dass es noch Potenzial gibt, weitere Leipzigerinnen und Leipziger für ein Ehrenamt zu gewinnen. Der konkrete Einsatz im Kulturbereich liegt unter den Befragten mit an der Spitze der möglichen Bereiche. Persönliche Flexibilität bei der Entscheidung für einen Einsatz und das Gefühl, gebraucht zu werden, sind häufig die zentrale Motivation. Jeder Vierte kann sich einen „EhrenamtsPass“ als Anerkennung für die eigene Bereitschaft vorstellen. Diesen gibt die Freiwilligen-Agentur Leipzig seit 2004 an alle ehrenamtlich Tätigen aus, der bei Vorlage Vergünstigungen und Preisnachlässe unter anderem auch bei Kultureinrichtungen gewährt, etwa im Zoo, in Oper und Theater, aber auch in den Museen und bei Konzerten des Gewandhauses.

Was sind erste Anlaufstellen für Bürgerinnen und Bürger, die sich gern engagieren möchten?
Bei der Suche nach Unterstützenden erhalten alle Vereine und Projekte in Leipzig tatkräftige Hilfe durch die Freiwilligen-Agentur Leipzig. Das ist eine Informations- und Vermittlungsstelle für Menschen, die sich freiwillig engagieren möchten. Zudem bietet der Verein mit der Servicestelle eine Anlauf- und Beratungsstelle zu verschiedenen Themen, von der Gründung eines Vereins über Fördermittelakquise bis hin zum Datenschutz. Außerdem organisiert die Servicestelle Workshops und Seminare zu Themen wie der gemeinnützigen Buchhaltung, Projektentwicklung und Freiwilligenkoordination.

In Kooperation mit der Stadt Leipzig bietet die Freiwilligen-Agentur Leipzig mit der Veranstaltungsreihe Engagement.Impuls ein Format, das interessierten Bürgerinnen und Bürgern sowie Engagierten die Möglichkeit gibt, sich innerhalb und über die Engagementlandschaft in Leipzig auszutauschen. Ein ganzes Weiterbildungsmodul zur ehrenamtlichen Arbeit, seinen rechtlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten bietet zudem die städtische Volkshochschule. Diese Kurse sind stark nachgefragt.

Die Erfahrungen zeigt allerdings auch, dass der Großteil der Bevölkerung ein Ehrenamt vor allem über das eigene soziale Umfeld findet – in bekannten Vereinen oder über Freunde und Familie.

Was leistet die Stadt Leipzig für das bürgerschaftliche Engagement – speziell im Kulturbereich? Wie werden Bürgerinnen und Bürger motiviert, sich zu engagieren?
Für Engagierte und Vereine gibt es verschiedene Möglichkeiten der Anerkennung und Förderung durch die Stadt Leipzig.

Eine Reihe gemeinnütziger sowie kultureller Institutionen wird institutionell oder projektbasiert gefördert. Dafür stellt die Stadt Leipzig jährlich 10 Millionen Euro zur Verfügung. Über die Kommunalpauschalenverordnung werden Projekte und Maßnahmen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamts anhand der Zielkategorien Qualifizierung, Vernetzung, Anerkennung gefördert. Am 14. November 2020 findet darüber unter anderem die Onlinekonferenz „Engagement.Campus“ statt. Mit „Leipzig weiter denken“ hat die Stadt Leipzig eine zentrale Koordinierungsstelle für bürgerschaftliches Engagement geschaffen, die sich seit 2012 der Ausgestaltung von Beteiligungsprozessen widmet.

Wie wird das Engagement von der Kommune gewürdigt?
Erst im Oktober verlieh der Oberbürgermeister Burkhard Jung die Goldene Ehrennadel der Stadt Leipzig an acht ehrenamtlich tätige Leipzigerinnen und Leipziger. Von 1999 bis 2020 erhielten insgesamt 183 Personen in Leipzig für ihr soziales, kulturelles, politisches Engagement, ihre Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe oder im Sport diese besondere Auszeichnung. Neben dieser sehr persönlichen Ehrung lädt die Stadt seit 1995 jedes Jahr rund 350 Engagierte mit Begleitung zur Würdigung des sozialen Engagements zu einem festlichen Empfang in die Oper, das Gewandhaus oder die Musikalische Komödie. Stellvertretend für die große Zahl ehrenamtlich Tätiger werden an diesem Abend Personen aus Vereinen, Verbänden, Einrichtungen der Stadt, Initiativen sowie Selbsthilfegruppen, Kirchgemeinden und ehrenamtlich Tätige aus Jugendprojekten geehrt. Diese Personen repräsentieren die große Gruppe ehrenamtlich tätiger Menschen in unserer Stadt.

Ihre Leistung wird auch außerhalb Leipzigs wahrgenommen und geehrt. So befanden sich unter den in diesem Jahr durch den Freistaat Sachsen 25 geehrten ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Museum zwei Leipziger, die sich im Museum für Druckkunst und im GRASSI Museum für Angewandte Kunst engagieren.

Was leistet wiederum das bürgerschaftliche Engagement für Leipzig?
„Willst du froh und glücklich leben, lass kein Ehrenamt dir geben“, spottete einst Wilhelm Busch. Ich glaube, er hat es nicht wirklich so gemeint. Schon zu seiner Zeit spielte das Ehrenamt eine wichtige Rolle. Freiwilliges Engagement war und ist für unsere Gesellschaft höchst wertvoll. Es fördert und erhält den sozialen Zusammenhalt, handelt im täglichen Tun das Miteinander aus und stellt ein großes Potenzial für eine ausgewogene Entwicklung der Stadt und funktionierende Nachbarschaften dar.

Wir wissen, die heutige Vielfalt in der Kultur, im Sport und sozialen Bereich ist in Leipzig nur mithilfe vieler Freiwilliger realisierbar. Der Festivalbetrieb unserer Kulturstadt wäre ohne sie nicht denkbar. So unterstützen Ehrenamtliche und Volontäre alljährlich beispielsweise die Leipziger Jazz-Tage, das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm und das Theater- und Tanzfestival euro-scene Leipzig, um nur einige zu nennen. Zahlreiche Vereine und Initiativen könnten ohne ehrenamtliche Unterstützung deutlich weniger soziale und kulturelle Angebote unterbreiten. Die Grenze, wo individuelles Engagement in staatlichen Rückzug kippt, ist schmal und gehört sensibel beobachtet. Umgekehrt stiftet staatlich unverzichtbare Arbeit häufig auch Sinn für die Engagierten. Kommunale Aufgabe ist also einerseits, die Stadtgesellschaft zu vernetzen und Möglichkeiten für Engagement zu schaffen, andererseits für eine stabile hauptamtliche Grundversorgung und strukturelle Stabilität zu sorgen.

Welche Auswirkungen hat derzeit die Corona-Pandemie auf die Leipziger Engagementstrukturen?
Aktuell würden viele Ehrenamtliche lieber auf die Ehrungen verzichten und sich dafür mehr Gewissheit für ihr Tun in den Zeiten der Corona-Pandemie wünschen. Die ehrenamtliche Tätigkeit lebt vom persönlichen Austausch. Doch hier gilt insbesondere, das gesundheitliche Risiko nicht zu unterschätzen, denn ein Großteil der Ehrenamtlichen gehört selbst zur Risikogruppe oder unterstützt überwiegend Zielgruppen, die zur Risikogruppe zählen. Die Folgen der Pandemie erzeugen zudem finanzielle Unsicherheiten in Vereinen und Initiativen. Spenden bleiben aufgrund der angeschlagenen Wirtschaft aus und Privathaushalte bleiben in Habachtstellung hinsichtlich der Entwicklung. Gleichzeitig müssen höhere Belastungen durch die sich stetig wandelnden Einschränkungen, die Erstellung der Hygienekonzepte und Einhaltung der Auflagen organisiert und getragen werden. Dazu kommt die Wandlung der verstärkten Kommunikation über digitale Kanäle. Die Veränderungen sind so mannigfaltig, dass es jeder Person, aber auch jeder Institution schwerfällt, Schritt zu halten.

Dennoch hat die Pandemie sehr viel Wärme und kollektive Kraft zutage befördert. Das hohe Maß an Hilfsbereitschaft von Leipziger Bürgerinnen und Bürgern im Bereich der Nachbarschaftshilfe überstieg im März und April dieses Jahres sogar die Nachfrage danach. Diese Solidarität zu spüren war für mich ein wunderbarer Lichtblick in diesen schwierigen Zeiten. Dieses Gefühl, die Früchte des eigenen Engagements sehen und spüren zu können, ist ein essenzieller Antrieb für das bürgerliche Engagement. Dass dies in Bälde für alle Bereiche unserer Gesellschaft wieder möglich ist, wünsche ich mir sehr. Wir alle brauchen es.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2020.

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