Nina George & Theresa Brüheim 7. September 2020 Logo_Initiative_print.png

Was ist uns Lite­ra­tur wert?

Nina George im Gespräch

Wie hart trifft die Coronakrise Autorinnen und Autoren? Was leistet der Lesungsfonds des Fördervereins Buch? Wie ist es aktuell um den europäischen Buchmarkt bestellt? Welchen Wert messen wir als Gesellschaft Literatur bei? Die Schriftstellerin, Vorstandsmitglied des Fördervereins Buch und Präsidentin des European Writers‘ Council Nina George gibt Theresa Brüheim Antwort auf diese Fragen und mehr.

Theresa Brüheim: Frau George, in Politik & Kultur 4/20 haben Sie zu Beginn der Coronakrise in einem eindrücklichen Beitrag die aktuelle Situation von Autorinnen und Autoren geschildert. Wie ist die Situation heute, vier Monate später?
Nina George: Die Befürchtungen haben sich leider bewahrheitet: Autorinnen und Autoren von Genreliteratur, Sachbüchern, Kinder- und Jugendbüchern, aber auch Hochliteratur leben sehr stark von Kontaktveranstaltungen. Sie sind auf Lesereisen, die ein bis zwei Jahre dauern können, angewiesen, das macht den Großteil ihres Einkommens aus. Bereits seit Monaten fallen Veranstaltungen aus, auch, weil seitens der Buchhandlungen kein Investitionsvolumen mehr vorhanden ist. Denn die sind mit 30 bis 80 Prozent Umsatzverlust in den Sommer gegangen. Viele Autorinnen und Autoren sind so an ihr Existenzminimum geraten – zusätzlich zu der Unsichtbarkeit im Markt: Rund ein Drittel der geplanten Neuerscheinungen werden um eine Saison geschoben – oder sogar ganz abgesagt. Das trifft auch Übersetzerinnen und Übersetzer. Ein weiterer, verzögerter Verlust ist seitens der Verwertungsgesellschaften erwartbar – viele zahlungspflichtige Institutionen, Copyshops, Hotels oder Händler hatten geschlossen, und der VG-Wort-Scheck wird die kommenden Jahre sicher niedriger ausfallen.

Literaturagenturen suchen zwar immer noch neue Stimmen und verkaufen weiterhin Stoffe, aber mit deutlich gesunkenen Vorschüssen. Wir beobachten auch die unangenehme Usance, dass mit Corona-Verlusten Honorare gedrückt werden, frei nach dem Motto: „Seien Sie froh, dass wir Ihnen trotzdem einen Auftrag geben.“

In der Zwischenzeit wurde das Konjunkturprogramm NEUSTART KULTUR auf den Weg gebracht. Wie beurteilen Sie es aus Ihrer Perspektive als Autorin?
Grundsätzlich ist das stark zu begrüßen! Es ist eine Geste der Wertschätzung, die auch marktaffine Kultur, Literatur und ihre Urheberinnen umfasst, weil verstanden wurde, dass Berufsurheberinnen und Kulturarbeiter existenzielle Verluste hatten. Wie weit uns dieses für die Autorinnen und Autoren, pardon, eher schmale Paket bringen wird, darüber bin ich mir nicht sicher: Denn das Volumen unserer Ausfälle ist rund drei- bis viermal höher als die zur Verfügung gestellten fünf Millionen Euro via Deutscher Literaturfonds. Das am 20. August lancierte „Verlags- und Buchhandlungspaket“ von 20 Millionen Euro für den Ausbau digitaler Vertriebswege sowie Druckkostenzuschüsse ist großzügiger, und kann über 1.000 Titel fördern. Ich hätte mir jedoch „faire Vertragspraxis inklusive Garantiehonorare für Autoren und Übersetzerinnen“ als zentrale Förderbedingung gewünscht.

Fakt ist: Das Virus ist keine Fiktion. Niemand kommt hier ohne Verluste raus. Weder ohne finanziellen Verlust noch den von etwas Tiefgreifenderem: das Vertrauen in die menschliche Begegnung.

Das Netzwerk Autorenrechte, das 2016 auf Ihre Initiative gegründet wurde, hat im Mai einen zwölfteiligen Maßnahmenkatalog erarbeitet. Eine Maßnahme ist, einen Lesen!-Fonds zu gründen. Inwieweit war dies die Vorlage für den neu eingerichteten Lesungsfonds des Fördervereins Buch?
Dies war eine hervorragende Vorlage. Aber ich bin auch sehr erfreut, dass sich insgesamt vier Maßnahmen aus unserem Vorschlagskatalog beim Deutschen Literaturfonds und beim Deutschen Übersetzerfonds wiedergefunden haben. Neben dem Lesen!-Fonds sind das: die Förderung von Online-Lesungen, digitale Programme in den Schulen und erweiterte Stipendienprogramme. Letzteres ist vor allem für die Übersetzerinnen und Übersetzer wichtig: Denn es gilt jetzt, Stimmen aus weniger geschriebenen Sprachen sowie kleineren Märkten zu fördern, damit wir weiterhin diese Diversität Europas aufrechterhalten! Es ist uns gelungen, durch den Maßnahmenkatalog rechtzeitig Impulse zu Förderungsmöglichkeiten zu setzen – auch beim BKM.

Der angesprochene Lesungsfonds fußt auf der Spende von 250.000 Euro der Bonnier Verlage an den Förderverein Buch, um Honorare für Veranstaltungen, die von Buchhandlungen organisiert werden, zu finanzieren.
Das war eine historische Aktion. Ich hatte in einem Artikel im Börsenblatt Verlage und Buchhandel zur Solidarität mit Autorinnen und Autoren aufgerufen. Denn die meisten von uns haben rein gar nichts von der Soforthilfe des Bundes, da unsere Betriebskosten so marginal sind – unser Betrieb ist unser Kopf. Wir brauchen Unterstützung bei den Lebenshaltungskosten und für den konkreten Verdienstausfall. Das nahm der CEO von Bonnier, Christian Schumacher-Gebler, Ende Juni zum Anlass, um sich an mich als eine Vertreterin des Netzwerks Autorenrechte zu wenden. Bonnier wollte gern Autorinnen und Autoren unterstützen, aus einem Topf, der sich aus der Mehrwertsteuersenkung ergab. Also haben wir Vorschläge ausgearbeitet – letztlich wurde unsere Lieblingsidee, der Förderfonds für Lesungen, durch den Autoren, der Buchhandel und Leser profitieren, umgesetzt. So können Autorinnen und Autoren in Würde Geld mit ihren Büchern verdienen.

Ausschließlich Buchhandlungen können sich bewerben, und sich aber einen Partner suchen, z. B. eine Schulaula, Bibliothek, Galerie oder einen Open-Air-Veranstaltungsort. Die Honorare werden nach der Bewilligung sofort ausgeschüttet.

Wie ist die Umsetzung bisher gelaufen?

Wir haben bisher 234 Autorinnen und Autoren, Übersetzer, Illustratorinnen gefördert – viele bereits zwei- oder dreimal, und 174 Buchhandlungen, drei Dutzend davon mehrmals. Wenn die Taktung so weitergeht, haben wir Mitte September unsere anvisierten 430 bis 460 Veranstaltungen möglich gemacht. Wie schrieb es eine Buchhändlerin: „Sie machen Mut, gerade uns kleinen Buchhandlungen, wieder Kulturinseln zu schaffen“. Wir nehmen folglich gern noch Spenden an.

Was ist noch dringend zu tun, um die vielfältige Buchbranche in Deutschland weitergehender zu unterstützen und zu erhalten?
Wir müssen darüber sprechen, was uns Literatur grundsätzlich wert ist. Dabei denke ich zunächst an die digitalen Vertriebs- und Umsatzmodelle; wir haben einen Anstieg der elektronischen Leselust während der Pandemie beobachtet, durch Zulauf zu Flatrate-Modellen, zur elektronischen Ausleihe, zu Piraterie – und vergleichsweise gering im Kaufmarkt. Diese fragmentierten, niedrigen Erlöse waren vor der Pandemie schon, freundlich gesagt, überschaubar und ersetzen den Verlust im Printmarkt nicht. Die Buchbranche muss sich kritisch selbst betrachten, ob sie weiterhin Flatrate- oder Null-Euro-Promotion-Angebote anbieten möchte, die teilweise auch als Panikreaktion auf das Buchbranchenkarussell resultierten. Das Tempo im Markt hat sich unglaublich erhöht: Inzwischen sind es nur drei bis sechs Wochen, in denen sich ein Buch etabliert haben muss, sonst geht es direkt wieder runter von den Tischen. Wollen wir als Buchbranche so weitermachen, mit Dumping im Digitalen, der kannibalistischen Bedienung eines überdrehten Printmarktes, und dann noch ohne gemeinsame Vergütungsregeln? Ich hoffe sehr auf eine autorenfreundliche Neujustierung in dieser Zäsur.

Wir müssen zudem eine Priorität auf Leseförderung setzen, und auch die Instrumente dazu couragiert weiterentwickeln. Das ist sicherlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die man nicht mal eben mit einer Werbekampagne lösen kann. Da muss man an verschiedenen Punkten ansetzen: Bringt die Bücher in jede Familie, bringt Autorinnen in die Schulen, und bringt das „Zielgruppen“-Denken auf Realitätsfaktor 2020. Wo sind Bücher für türkischsprachige Kinder, für syrische, englischsprachige? Eine Langzeitaufgabe ist auch die Haltung, wie wir mit Kunst- und Kulturschaffenden in Deutschland umgehen. In den nächsten 20 Jahren müssen wir uns darum kümmern, Wertschätzung herzustellen. Ein Blick nach Frankreich würde dabei nicht schaden.

Wenn wir über Frankreich hinaus zu den europäischen Nachbarn blicken. Wie ist die Situation?

Als European Writers‘ Council haben wir die ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Autorinnen und Übersetzer im europäischen Buchsektor in einer Umfrage in 24 Ländern untersucht. Dabei wurde deutlich, dass die Situation im östlichen und südlichen Europa dramatischer ist. Dort gibt es zumeist keine Hilfsprogramme. In Skandinavien gibt es teilweise andere Systeme, die Freiberufler zugewandter auffangen. In Norwegen hat der Staat anlässlich der Schließungen von Bibliotheken den Etat zum Ankauf und Vertrieb von E-Books in der elektronischen Leihe erhöht. Davon haben Autorinnen, Verlage und Leserinnen etwas. In Italien wurde beschlossen, in 2020 rund 28.000 Originaltitel weniger zu publizieren, gleichzeitig wurde im März ein Gesetz zur Förderung des Lesens und der Literatur erlassen. Das nenne ich Entscheidungskraft. In Frankreich gibt es ein kleines Staatsprogramm für Autorinnen und Autoren, die sich für einen monatlichen Zuschuss zwischen 400 Euro bis 1.000 Euro bewerben können.

Was bedeutet das Geschilderte in der Konsequenz für den europäischen Buchmarkt?
Es gibt Schätzungen der Federation of European Publishers (FEP), dass sich der europäische Buchmarkt in zwei bis schlimmstenfalls fünf Jahren wieder erholen wird und der Stand von 2019 wiederhergestellt ist. Wir haben sonst jährlich 600.000 Neuerscheinungen in ganz Europa – und Deutschland ist „Einkaufsland“, viele unserer Kolleginnen verdienen hier mit Lizenzen mehr als in ihren Heimatländern. En gros werden wir in Europa 100.000 bis 150.000 weniger Originaltitel veröffentlichen.

Da stehen auch jeweils 150.000 verlorene Existenzen dahinter.

Wir benötigen einen europaweiten Buch- und Bildungspakt. Während der Pandemie wurde deutlich, wie anfällig der Mensch ist, märchenhaften Theorien mehr zu trauen als unabhängigen Medien und der Wissenschaft. Dem müssen wir entgegensteuern.

Ich möchte uns nicht romantisieren, doch mit einer Hoffnung enden: Autorinnen und Autoren sind resilient. Wir bleiben an unserer Auf-gabe: die Welt anders zu erzählen als es Nachrichten oder Twitter tun. Andere Liebe, anderer Hass; Resonanzräume schaffen, von den Brüchen, Nöten und Wundern berichten, die der Mensch braucht, um zu wissen, wer er sein kann. Wir schreiben folglich weiter.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.

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