„Grabe, wo du stehst.“
Jürgen Karwelat über 40 Jahre Berliner Geschichtswerkstatt
„Geschichte zurechtrücken, Unbekanntes aufdecken“ (1983), „Direkt vor der Haustür. Berlin-Lichtenrade im Nationalsozialismus“ (1990), „… da sind wir keine Ausländer mehr. Eingewanderte ArbeiterInnen in Berlin 1961-1993“ (1993), „So viel Anfang war nie?! Nach dem Kriegsende in Berlin 1945“ (2016): Die hier ausgewählten Titel stehen programmatisch für die Arbeit der Berliner Geschichtswerkstatt (BGW). Im Mai 1981 als Verein gegründet, machte sich eine Gruppe Historiker und historisch Interessierter daran, Geschichte auf ihre Art aufzuarbeiten – in Teams, auf lokaler Ebene und in Kontakt mit Zeitzeugen. Jürgen Karwelat, Jahrgang 1951, Verwaltungsjurist, ist seit vielen Jahren in der BGW aktiv und (Mit-)Autor zahlreicher Publikationen zur Berliner Geschichte. Mit ihm sprach Behrang Samsami über die Entstehung der BGW, die vielfältigen Aktivitäten des Vereins und aktuelle Projekte in Zeiten der Corona-Pandemie.
Behrang Samsami: Herr Karwelat, wie kamen Sie zur Berliner Geschichtswerkstatt (BGW)?
Jürgen Karwelat: Geschichtsarbeit ist schlicht mein Hobby – und das seitdem ich politisch denken kann und mich mit Gesellschaft und Politik beschäftige. Ich bin der Ansicht, dass man als Gesellschaft wissen muss, wo man herkommt, damit man weiß, wo man hingehen soll.
Als ich 1980 von Dortmund nach Westberlin zog, habe ich mich sofort für die Geschichte der Halbstadt, in die ich gekommen bin, interessiert. 1983 schloss ich mich der BGW an und steckte viel Arbeit rein, weil mir das Spaß gemacht hat und Berlin etwas Besonderes ist. Hier wird man Schritt auf Tritt mit der deutschen Geschichte konfrontiert – mit der guten wie mit der schlechten.
Aus welchen Gründen wurde die BGW gegründet?
Die BGW ist 1981 in erster Linie gegründet worden, um an die Zeit des Nationalsozialismus und den Widerstand gegen die Diktatur zu erinnern. Das ist bis zum heutigen Tage ein Schwerpunkt geblieben.
Ich denke, dass Anfang der 1980er Jahre an den Universitäten eine große Unzufriedenheit unter den Studentinnen und Studenten über die Form der Vermittlung der Geschichte herrschte. Darum wollten sie etwas verändern: Es sollte nicht nur die große Geschichte, sondern auch die Alltags- und Lokalgeschichte erforscht und dargestellt werden. Und das mit- hilfe von Zeitzeugen. Stichwort Oral History.
Gab es Vorbilder für diesen Ansatz?
„Grabe, wo du stehst.2 Unter diesem Spruch eines schwedischen Historikers ist das Ganze schon in seinem Heimatland und in Großbritannien bekannt gewesen. Das war praktisch der Impetus, auch in Westberlin eine Gruppe zu gründen, die Alltagsgeschichte erforscht, mit Zeitzeugen arbeitet und auch versucht, die Zeitzeugen mit in die anschließende Darstellung einzubeziehen.
Am Anfang ging es viel um die Frage, wie in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand geleistet wurde. Deswegen waren am Anfang relativ viele Geschichtsstudenten in der BGW. Dann sind nach und nach immer weitere Leute dazugekommen.
Sie sprachen von der NS-Zeit als einem Schwerpunkt der BGW. Können Sie das erläutern?
Das Thema Zwangsarbeit in Berlin beschäftigt uns schon über viele Jahre. Die Gruppe, die sich darum kümmert, war meines Erachtens am erfolgreichsten. Sie hat vor vielen Jahren im Stadtteil Schöneweide ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager gefunden, einen Verein mitgegründet, sich mit anderen zusammengetan und so viel politischen Druck erzeugt, dass ein Dokumentationszentrum zur NS-Zwangsarbeit entstanden ist, das heute staatlich gefördert wird. Da ist der Sprung von der ehrenamtlichen hin zur professionellen Tätigkeit gelungen.
Welche Gruppen haben Sie noch?
Wir haben etwa noch Gruppen, die sich mit einzelnen Stadtteilen beschäftigen. So gibt es eine Gruppe, die seit vielen Jahren Rundgänge durch Lichtenrade macht. Themen sind die NS-Zeit, der Widerstand dort und das Erinnern daran. Mehrfach im Jahr unternehmen wir auch Rundgänge über die Rote Insel in Schöneberg, die „rot“ heißt, weil es sich hier um ein Arbeiterviertel handelte und die linken, „roten“ Parteien während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sehr stark waren.
Und in welcher Gruppe sind Sie selbst engagiert?
Das Kontinuierlichste, was ich gemacht habe, sind die historischen Stadtrundfahrten auf Schiffen, mit denen wir 1984 in Westberlin begonnen haben. Die Idee war, den Menschen auf lockere und angenehme Weise Geschichte nahezubringen. Wer auf dem Schiff ist, ist an der frischen Luft, der entspannt sich und ist bereit zuzuhören. Das hat bisher sehr gut funktioniert. Und dann haben wir in unserem Laden in Schöneberg noch eine Präsenzbibliothek zur Berliner Geschichte, um die sich eine weitere Gruppe kümmert. Sie umfasst 6.000 Bände und platzt aus allen Nähten.
Wie sehen die aktuellen Projekte der BGW aus?
Am 1. Oktober 1920 wurde Groß-Berlin gegründet. Zu diesem Jubiläum hatten wir mit „1920: Aufbruch aus dem Chaos. Berlin wird Weltstadt“ eine Veranstaltungsreihe initiiert, die durch die Corona-Pandemie etwas aus dem Tritt geraten ist. Jetzt haben wir den Faden aber wieder aufgenommen. Es gibt Vorträge und Rundgänge zu bestimmten Themen, die vor 100 Jahren die Menschen in Berlin bewegten. So haben wir etwa einen Rundgang durch die „Papageiensiedlung“ gemacht. Dabei handelt es sich um das Wohnviertel Onkel Toms Hütte, ein großes Projekt zur Linderung der Wohnungsnot in den 1920ern. Ein anderes Thema ist der Nah- und Fernverkehr, der ab 1920 neu sortiert werden musste, weil Berlin durch viele Städte zusammengelegt wurde und hier unterschiedliche Systeme bestanden. Ende 1928 wurde unter Ernst Reuter, der seit 1926 das Dezernat für Verkehr und Versorgungsbetriebe im Magistrat leitete, die BVG gegründet.
Schlagen Sie einen Bogen zu heute?
Das versuchen wir, denn es ist ja unser Ansatz, nicht nur zu erzählen, wie und was damals war, sondern wir wollen auch aus der Geschichte lernen. Wir können dann vergleichen, was damals gut und was schlecht war, und daraus folgern, was heute noch genauso ist. Manche sozialen Verhältnisse haben sich nicht geändert. Bei dem Groß-Berlin-Projekt haben wir uns im Übrigen auch mit Obdachlosigkeit und Müllentsorgung, Hygiene und Badeanstalten befasst.
Wie finanzieren Sie Ihre Projekte?
Im Fall von Groß-Berlin haben wir bei der Deutschen Lotto-Stiftung Berlin einen Antrag gestellt, der positiv beschieden wurde. Mit dem erhaltenen Geld bezahlen wir die Honorare für die Rundgänge und Vorträge, können damit aber auch die geplante Buch-Dokumentation umsetzen.
Wie viele Mitglieder hat die BGW?
Wir haben um die 80 Mitglieder. Die Zahlen sind seit Jahren stabil. In der letzten Zeit sind wir sogar mehr geworden – und zwar durch ältere, aus dem Arbeitsleben ausgeschiedene Personen, etwa Lehrer, die sich gemeldet haben, weil sie mitarbeiten wollen.
Welche Bedeutung hatte die deutsche Wiedervereinigung 1990 für die BGW?
Anfang oder Mitte der 1990er Jahre entstand auch im Osten Berlins eine Geschichtswerkstatt. Sie hatte aber einen anderen Ansatz, weil die Mitglieder im Wesentlichen professionelle Historiker waren, die den Arbeitsplatz verloren oder schon vorher keinen hatten, weil sie freischwebend gewesen sind. Sie haben sich gesagt: Tun wir uns zusammen. Dadurch können wir auch unsere beruflichen Interessen besser durchsetzen. Das unterschied uns, weil wir im Westteil der Stadt die „Barfuß-Aktivisten“ waren bzw. noch sind, die Geschichte nicht zu ihrem Beruf gemacht hatten.
Wie ist die Reaktion der Universitätshistorikerinnen und -historiker auf Initiativen wie die BGW?
Ich denke, dass an den Universitäten immer noch Ressentiments gegenüber den „Barfuß-Aktivisten“ von Geschichtswerkstätten herrschen. Unter Geschichtswissenschaftlern gibt es einen Spruch: „Der Augenzeuge ist der größte Feind des Historikers.“ Ergo: Sie haben extremes Misstrauen gegenüber den Personen, die befragt werden. Letztlich ist die Form, Alltagsgeschichte darzustellen, heutzutage aber das Normale an Hochschulen. Daher meine ich, dass diese Bewegung erfolgreich war, weil sie die Form der Darstellung der Geschichte beeinflusst hat.
Was für einen Schluss ziehen Sie daraus?
Wenn man sieht, was in den vergangenen 40 Jahren erreicht worden ist, könnte man fast sagen, dass die BGW sich auflösen kann. Alltagsgeschichte, die Geschichte der „kleinen Leute“ sollte erforscht und dargestellt werden. Das ist seit vielen Jahren allgemeiner Standard auch für alle Museen geworden, die sich mit der Stadtgeschichte beschäftigen. Insofern ist die Idee in die Gesellschaft eingesickert. Wir stehen aber nicht nur für die Vermittlung von Alltags- und Stadtgeschichte. Wir wollen auch politische Zeichen setzen. Und solange wir sehen, dass man an etwas erinnern kann oder etwas diskutieren sollte, solange werden wir auch weiter existieren.
Haben Sie ein aktuelles Beispiel?
Das Attentat auf Rudi Dutschke und die Studentenunruhen von 1968: Dazu haben wir auch eine Veranstaltungsreihe gemacht, jeweils auch an den Orten des Geschehens. Die letzte Aktion in diesem Zusammenhang war eine im Juni 2020. Wir haben den Shakespeareplatz gegenüber der Deutschen Oper an der Bismarckstraße durch mehrere Schilder symbolisch in Benno-Ohnesorg-Platz umbenannt. Der Student Ohnesorg war am 2. Juni 1967 während des Schah-Besuchs in Berlin erschossen worden. Es kam nach unserer Aktion gleich die Polizei und hat unsere Schilder abgeräumt. Ich habe am nächsten Tag ein weiteres Schild angebracht. Die Polizei drohte mir daraufhin ein Strafverfahren an. Wenn es eins gibt, ziehe ich das gerne durch. Dies gibt noch einmal Aufmerksamkeit für unser Anliegen. Unsere Schilder waren einfach wieder abzunehmen. Ich halte diese politische Idee, an Benno Ohnesorg zu erinnern, für richtig. Letztlich muss die Bezirksverordnetenversammlung von Charlottenburg-Wilmersdorf dafür gewonnen werden, einen solchen Beschluss zu fassen.
Welche Pläne hat die BGW für die Zukunft?
Eigentlich hatten wir für September 2020 ein Rio-Reiser-Festival geplant. Mit Konzerten, Rundgängen, Theater- und Buchvorstellungen sowie Stadtrundfahrten mit dem Schiff. Doch dann kam die Corona-Pandemie. Wir hoffen, dass wir das Ganze im Juni 2021 nachholen können. Finanziell abgesichert ist das Festival. Der Antrag beim Hauptstadtkulturfonds hatte Erfolg.
Vielen Dank.
Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2020.