Ólafur Elíasson & Ludwig Greven 6. Juli 2020 Logo_Initiative_print.png

„Kin­der sagen die Wahrheit“

Earth Speakr von Ólafur Elíasson 

Der isländisch-dänisch-deutsche Künstler Ólafur Elíasson gibt Kindern mit seinem neuesten Kunstwerk „Earth Speakr“ das Wort zur Zukunft des Planeten. Ludwig Greven sprach mit ihm über Kunst, Klimawandel und Politik.

Ludwig Greven: Sie wollen Kindern und Jugendlichen in ganz Europa die Gelegenheit geben, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ihre Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Ideen zur Zukunft der Erde künstlerisch auszudrücken. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ólafur Elíasson: Durch Greta Thunberg und „Fridays for Future“ bin ich darauf gekommen, dass Kinder und Jugendliche sehr gut Bescheid wissen über wichtige Themen und Entwicklungen, auch wenn sie nicht beim Abendbrot mit ihren Eltern darüber diskutieren. Aber sie werden nur sehr selten wahrgenommen, gehört und gesehen. Die jedoch, die die Zukunft gestalten und die Macht haben, die Politiker, sind oft so alt, dass sie nur noch so lange zu leben haben, wie die Kinder schon alt sind. So ist allmählich die Idee entstanden, Kindern eine Stimme zu geben, obwohl oder gerade weil sie nicht unbedingt in das rationale Raster der Entscheidungsmaschine unserer Welt passen.

Schließlich geht es um ihre Zukunft.

Genau. Mein zweiter Gedanke ist: Kinder lügen nicht. Vielleicht sagen sie etwas, was nicht stimmt. Aber sie tun es nicht absichtlich. Und man sollte nicht auf die Fakten schauen, sondern auf den Grund, warum sie etwas sagen. Dem sollte man zuhören.

Es geht also um ihre subjektive Wahrheit?

Dass die Kinder von „Fridays for Future“ auf die Straße gehen, dass sie die Sorgen einer ganzen Generation ausdrücken, ist eine Realität – unabhängig davon, ob die Prognosen zum Klimawandel in jedem Detail zutreffen. Kinder reden aus der Sicht von Erwachsenen oft irrational. Aber was sie sagen, ist ja nicht ohne Grund. So ist allmählich, durch Gespräche mit Kindern und Lehrern, die Idee gewachsen. Wir haben auch mit Pädagogen an Universitäten, Kinderrechtlern und Kinderpsychologen gesprochen. Das war ein spannender Prozess. Das große Team in meinem Studio hat dann daran gearbeitet, wie können wir eine Plattform schaffen, auf der die Kinderexperten sich äußern können und das Gefühl haben, dass sie gesehen werden und ihnen zugehört wird.

Wie wird das konkret aussehen?

Die Kinder und Jugendlichen können sich auf der Webseite eine App herunterladen und haben künstlerische und spielerische Möglichkeiten, sich auszudrücken, mit Augmented Reality …

… also künstlich, künstlerisch angereicherten realen Aufnahmen.

Ja, mit Bäumen, Pflanzen oder irgendwelchen Gegenständen. Die App ist wie ein Werkzeug- oder Malkasten. Die kreative Leistung kommt von den Kindern. Dieses Gerät nimmt auch den Gesichtsausdruck der Kinder auf, ohne die Gesichter zu zeigen. Das darf man ja auch gar nicht. Gezeigt wird sozusagen die Übertragung ihrer Emotionen auf einen Baum, eine Banane oder einen Hintergrund, den sie zeigen. So entsteht ein öffentliches gemeinsames Kunstwerk. Wobei die Rechte, anders als bei Instagram, bei den Kindern bleiben. Wir machen ja nichts Kommerzielles.

Wird es eher ein riesiges Manifest werden oder wirklich ein gigantisches Kunstwerk?

Man könnte sagen, es ist eine Kinder-Agora, ein europaweiter Marktplatz. Wenn die Kinder ihre Botschaften gesendet haben, kann sie jeder, auch Erwachsene, auf einer Landkarte finden und darauf drücken. Vielleicht redet dann ein Stein oder Wasser. Man kann das teilen und weiterschicken. Das soll ein großes Netzwerk werden. Die Inhalte sind die kurzen Filme der Kinder, ihre Lautsprecher. Die kann man dann auch verteilen, z. B. vor das dänische Parlament, damit die Abgeordneten dort hören, was die Kinder zu sagen haben. An solchen Orten, wie auch im EU-Ratsgebäude in Brüssel und im Europäischen Parlament, wird es reale Präsentationen geben.

Was daran ist Kunst?

Lass uns einfach abwarten, was daraus wird. Oft ist es auch bei mir selbst so, dass ich bei Kunstwerken nicht genau weiß, ist das jetzt Kunst oder nicht. Das Besondere an unserem Projekt ist, dass es wie ein gewaltiger Lautsprecher ist oder ein Mikroskop mit einer hohen Auflösung. Dadurch hört und sieht man etwas, was man sonst nicht hört und sieht, nämlich die Stimmen von Kindern, die sich künstlerisch, spielerisch oder politisch ausdrücken. Ich gehe davon aus, dass sie etwas zu sagen haben, in welcher Form auch immer. Sie können auch etwas machen, über Fußball oder ihre Lieblingsband. Es muss sich ja nicht alles um das Klima drehen. Meine Idee ist, einer marginalisierten Gruppe, der jungen Generation, eine subversive Kraft zu geben. Und wir, die Erwachsenen, müssen ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Das hat etwas Parlamentarisches.

Aber werden ihnen die Politiker, die Mächtigen zuhören?

Ich glaube: Ja. Auch die Politiker begreifen zunehmend, dass die Kinder mitreden wollen und dass sie in 20 oder 30 Jahren bereuen werden, wenn sie ihnen nicht zugehört haben. Kinder haben meistens recht. Sie sagen die Wahrheit. Sie vertreten keine Aktiengesellschaften oder politische Lobby. Sie vertreten sich selbst.

Kinder haben keine starke Lobby. Auch in der Kunst spielen sie keine große Rolle. Sie sind Gegenstand künstlerischer Darstellungen, aber werden nicht als Künstler wahrgenommen.

Jedes Kind kann sich kreativ ausdrücken. Zeigen, wie es die Welt sieht, wie es sie sich wünscht. Aber das wird leider oft nicht wahrgenommen von denen, die die Entscheidungen treffen. Wir wissen, dass ein erfolgreicher Bildungsprozess nicht darin besteht, dass Kinder in der Schule zuhören und das mit nach Hause nehmen. Sondern dass sie den Lernprozess mitgestalten, dass sie sich einbringen können und ihnen zugehört wird.

Also eine Umkehr des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen?

Die Kindheit wird heute betrachtet als Vorbereitung auf das Erwachsensein. Die Kinder werden von ihren Eltern und den Lehrern vor der Welt geschützt – in der Annahme, dass sie nicht viel über die Welt zu sagen haben. Genau das will ich hinterfragen. Kinder sind keine Spezialisten. Aber um die Zukunft zu gestalten, müssen wir sie einbeziehen. Da spielen sie eine zentrale Rolle. Denn sie werden in der Zukunft leben. Unser Kunstprojekt ist dabei nur die Methode. Denn wenn es Kunst ist, unterstellt niemand, dass es politische Agitation ist.

Durch die globale Corona-Krise ist der Klimawandel in den Hintergrund gerückt. Glauben Sie, dass es auch durch Ihr Projekt wieder die Aufmerksamkeit bekommt, die es braucht?

Wir leben in einer sehr beschleunigten Zeit. Im vergangenen Jahr drehte sich alles um den Brexit und die Klimaproteste. Dann kam die Pandemie, nun auch noch die neue Bürgerrechtsbewegung in den USA. Es ist, also ob wir zehn Jahre in sechs Monaten durchlaufen. Aber wir sollten das nicht alles in getrennte Silos packen, Corona, die Klimafrage, Rassismus: Das ist alles eine Wirklichkeit. Auch wenn die Pandemie und die dadurch ausgelöste Krise für viele sehr traumatisch war, ist dadurch die Sensibilität gewachsen, ein Verständnis für Lokales, für das Ökosystem, Verantwortung für die Gesellschaft. Unser Alltag hat sich verändert. Plötzlich arbeiten viele zu Hause und müssen nicht mehr hin- und herfahren zwischen ihrer Wohnung und der Arbeit, und die Leute merken, dass wir gar nicht so viel fliegen müssen. Für die Fluggesellschaften und die Flugzeughersteller ist das schlecht. Aber so ist es jetzt.

Ihr Kunstprojekt ist ja geradezu sinnbildlich für diesen Wandel: Wir bleiben in Europa und global verbunden, aber jedes Kind macht sein Kunstwerk in seinem Dorf, seiner Stadt, bei sich.

Ja, das kann sehr spannend werden. Es geht nicht darum, die Globalisierung zurückzudrehen, sondern unsere Welt anders zu gestalten und zu vernetzen. Da haben die Kinder eine Vorreiterrolle.

Muss Kunst heute generell politischer werden?

Auch wenn ein Künstler in seinem Atelier ein Bild malt, macht er das ja nicht nur für sich. Das ist eher eine Frage der Formsprache, ob man malt, eine Skulptur oder eine Videoinstallation schafft, ob man ein Buch schreibt oder dichtet. Was sagt der Künstler damit? Darauf kommt es an. Kunst hat eigentlich immer, es sei denn, sie ist rein kommerziell, mit der Wirklichkeit zu tun. Deshalb sollten wir von den internen Kämpfen in der Kulturszene zurücktreten, wer die beste Formsprache hat. Darüber wird viel zu viel gestritten, male ich oder tanze ich oder mache ich Filme. Dadurch wird der Zusammenhalt unter den Künstlern geschwächt. Kultur ist der Herzschrittmacher der Gesellschaft. Angesichts des Populismus, der um sich greift, müssen wir eine postideologische Vertrauensbasis schaffen. Wir müssen gemeinsam die Welt gestalten und eine Utopie entwickeln. Deshalb bin ich für Multilateralismus und engagiere mich für die EU.

Sie sind selbst sehr multilateral. Sie sind Isländer und Däne, arbeiten und leben in Berlin.

Ich habe seit einigen Jahren auch einen deutschen Pass. Ich bin ein Europäer.

Ihr Projekt ist virtuell und digital. Ist das auch eine Antwort auf die Frage nach dem ökologischen Fußabdruck von Kunst und Kultur, wenn z. B. Kunstwerke, Orchester oder Bands durch die ganze Welt reisen und fliegen?

Das Avantgardistische an der Kultur ist, dass sie auch immer eine ethische Aussage macht. Sie hat immer ein Selbstbild von den Werten, die sie vertritt. Die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist in der Kunst allerdings oft viel höher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Denn die Wirtschaft z. B. beansprucht gar nicht, dass sie für moralische Werte steht. Die Kultur beschäftigt sich sehr damit. Deshalb muss sie sich auch mit ihrem CO2-Abdruck befassen. Ein digitales Projekt wie unseres kann darauf eine Teilantwort sein. Aber viel wichtiger ist, dass wir das, was wir fordern, auch selber tun, also umwelt-, klima- und zukunftsgerecht leben.

Kunst hat immer auch einen Wert für sich, sie ist normalerweise nicht in erster Linie Ausdruck eines bestimmten Ziels oder Zwecks. Wie ist das bei „Earth Speakr“?

Kunst hat, wenn sie nicht funktionalisiert wird, eine klarere Aussage. Aber dieser Satz darf nicht zum Dogma werden. Das widerspräche dem künstlerischen Potenzial, der Dynamik der Kultur für die Gesellschaft. Wenn man zurückschaut, hat sich Kunst immer mit der Realität auseinandergesetzt. Avantgarde zu sein heißt nicht, dass sich Kunst für eine bestimmte Ideologie instrumentalisieren lassen sollte. Aber in den Meinungsstreit in einer Gesellschaft, zwischen den verschiedenen Interessengruppen, kann und muss sie sich einmischen.

Wenn die Kinder einfach nur eine schöne Landschaft zeigen, eine Pflanze, einen See, einen Wald oder auch Umweltverschmutzung, würde Ihnen das als Aussage reichen?

Das ist die Realität, wie sie sie sehen, und deshalb hat es eine Bedeutung. Ich war in einer Schulklasse und habe mit den Schülern über das Leben einer Pflanze gesprochen und woran etwas Künstlerisches an ihr zu spüren ist. Die meisten sagten, wenn eine Blume blüht, dann ist es ein Kunstwerk. Aber einige sagten, es ist die Wurzel, andere die Erde, in der sie wächst, oder das Wasser. Es kommt immer auf die Sichtweise an. Wir müssen uns da nicht festlegen. Ich habe großes Vertrauen in Künstler, gerade in die Kinder, viel mehr als in andere Menschen.

Aber was hat das mit der Gesellschaft zu tun?

Nehmen Sie Gerechtigkeit. Gerechtigkeit ist gesellschaftliche Liebe, Humanität. Kultur sollte die Verbindung schaffen von Liebe und Gerechtigkeit. Gerhard Richter hat gesagt: Kunst ist die höchste Form der Hoffnung. Sie sollte zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Gerechtigkeit überbrücken. Kunst hat da etwas anzubieten, wenn wir Künstler es richtig angehen.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

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