Helmut Hartung 6. Juli 2020 Logo_Initiative_print.png

Die ein­ge­schränkte Macht der Algorithmen

Beim Medi­en­staats­ver­trag geht es neben der Siche­rung der Mei­nungs­viel­falt auch um unsere kul­tu­relle Identität

Es war knapp. Am 27. April 2020 teilte die EU-Kommission den Ländern mit, dass ihrerseits keine grundsätzlichen Einwände gegen den Medienstaatsvertrag bestehen würden. Das Vertragswerk musste der Brüsseler Kommission zur sogenannten Notifizierung vorgelegt werden. Noch Tage zuvor gab es Anzeichen dafür, dass Brüssel den Staatsvertrag in der vorgelegten Form nicht akzeptieren würde. Es war der Vorwurf zu hören, dass man in Deutschland mit der Regulierung viel zu weit gehe, da noch nicht erwiesen sei, ob Intermediäre wie Google oder Facebook Einfluss auf die Meinungsvielfalt hätten. Deshalb dürfe man sie nicht, wie es der Medienstaatsvertrag vorsieht, zur Transparenz gegenüber Nutzern bei den verbreiteten Inhalten sowie zur Diskriminierungsfreiheit zwingen. Die Bedenken beruhten auf der E-Commerce-Richtlinie der EU. Einer Richtlinie aus dem Jahr 2000, die Plattformanbieter von der Haftung für Inhalte, die bei ihnen verfügbar sind, weitgehend freistellt. Das war die hoffnungsvoll optimistische Internetzeit, in der Hate Speech, Fake News, Rassismus und Populismus in sozialen Netzwerken Randthemen waren und eine Internetregulierung zur Diaspora deutscher Medienpolitik gehörte. Die Europäische Kommission hat zwar den Entwurf des deutschen Medienstaatsvertrages letztendlich akzeptiert, konnte sich aber dennoch einiger Anmerkungen nicht enthalten. „Einige Bestimmungen des deutschen Vertragsentwurfs werfen Bedenken auf, ob sie mit EU-Recht vereinbar sind. Das EU-Recht schützt den freien Binnenmarkt für europäische Anbieter ebenso wie die Medienvielfalt“, sagte ein Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland. Vor allem zeigte sich die Kommission darüber verärgert, dass Deutschland weltweit erstmalig versucht, im Interesse der Meinungsvielfalt, den Einfluss der Online-Konzerne zu begrenzen. Die Regulierung von Plattformen werde auf europäischer Ebene angegangen, betonte der Sprecher. Die Kommission habe angekündigt, bis Ende dieses Jahres ein Gesetzespaket für digitale Dienste vorzuschlagen, den sogenannten Digital Services Act. Dazu soll auch eine europäische Regulierungsbehörde für das Internet gehören. Die Erfahrung mit EU-Gesetzesvorhaben lehrt allerdings, dass sehr viel Zeit für ihre Ausarbeitung und Zustimmung durch die Mitgliedsländer benötigt wird und Google & Co. alles versuchen werden, für sie unangenehme Regelungen zu verhindern.

Die Macht der Algorithmen wird nicht gebrochen, aber sie wird eingeschränkt

Am 30. April 2020 haben die Regierungschefinnen und -chefs aller 16 Bundesländer den Vertrag unterzeichnet. Nun müssen ihm noch die Landtage zustimmen, damit er bis Ende des Jahres in Kraft treten kann. Mehr als fünf Jahre hat die Arbeit an diesem Gesetzeswerk, das verschiedene Staatsverträge ablösen wird, gedauert. Er wird den Einfluss der Online-Plattformen auf die Meinungsbildung nicht reduzieren, aber er wird für mehr Klarheit sorgen, nach welchen grundsätzlichen Kriterien die Auswahl der Inhalte erfolgt, damit wichtige Informationen nicht per Algorithmus ausgeblendet werden. Die Macht der Algorithmen wird nicht gebrochen, aber sie wird eingeschränkt.

Für die rheinland-pfälzische Medienstaatssekretärin Heike Raab ist der „Staatsvertrag zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland“, wie er offiziell heißt, das „wichtigste medienpolitische Vorhaben der letzten Jahre in Deutschland und Europa“. Deutschland habe sich bereits 2016 für differenzierende Maßnahmen zur Sicherung der Meinungs- und Medienvielfalt ausgesprochen. „Da wir von Finnland bis Frankreich oder von Irland bis Griechenland unterschiedliche Kultur- und Medienpolitiken pflegen, halte ich europaweit vereinheitlichende Vorgaben in diesem Feld für komplizierter als in anderen Themenfeldern. Es geht hier um die kulturelle Identität der einzelnen Mitgliedstaaten, jedenfalls solange sich diese – anders als derzeit beispielsweise in Ungarn – im Rahmen der gemeinsamen europäischen Werte bewegt“, betont Heike Raab.

Nach Einschätzung des Medien- und Verfassungsrechtlers Bernd Holznagel von der Universität Münster knüpft der Vertrag bei der Vielfaltssicherung in der digitalen und konvergenten Medienumgebung nicht mehr ausschließlich an technische Kapazitätsbegrenzungen des 20. Jahrhunderts an, „sondern erkennt daneben strategische Torwächterpositionen als Faktoren im medialen Meinungswettbewerb an“. Allerdings gelte die vorgesehene Transparenz bei Intermediären nur, wenn sie potenziell einen besonders hohen Einfluss auf die Wahrnehmbarkeit der Angebote hätten. Wann dies vorliege, wird im Einzelfall schwer zu bewerten sein.

Der bisherige Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (RStV) kann den mit der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen für die Meinungsvielfalt nicht mehr gerecht werden. Deshalb konstituierte sich auf Initiative der Länder 2014 eine Bund-Länder-Kommission, die über medienpolitische Konsequenzen aus der Medienkonvergenz entscheiden sollte. Diese Vorgaben waren die Basis für den vorliegenden Staatsvertrag. Der neue Gesetzestext wird als „Medienstaatsvertrag“ bezeichnet, obwohl mit ihm z. B. explizit die Presse nicht geregelt werden kann und soll. Er ist also kein Vertrag für alle Medien, sondern enthält Festlegungen für den Rundfunkbegriff, die Plattformregulierung, für Intermediäre, Video-Sharing-Dienste, Werbung, Jugendmedienschutz und Änderungen zur Umsetzung der AVMD-Richtlinie. Da Messenger-Dienste wie WhatsApp ganz überwiegend Individualkommunikation sind, werden sie vom Medienstaatsvertrag nicht erfasst.

Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Sichtbarkeit vielfältiger Informationen weiterhin gewährleisten

Auch in einer von Algorithmen gesteuerten Kommunikationswelt muss im Interesse der Meinungsvielfalt die Zugänglichkeit, Verfügbarkeit und Sichtbarkeit vielfältiger Informationen und Ansichten gewährleistet sein. Nur so ist eine freie, individuelle und öffentliche Meinungsbildung gewährleistet. Suchmaschinen und soziale Netzwerke sind zu Gatekeepern geworden und haben verstärkt Kontrolle über Medieninhalte. Vermehrt werden Dienste wie Facebook und Google als primäre und teilweise einzige Informationsquelle genutzt. Damit kommt ihnen Meinungsbildungsrelevanz zu. Deshalb berücksichtigt der Medienstaatsvertrag Medienintermediäre erstmals in einem Rechtsrahmen zur Vielfaltssicherung und legt ihnen Pflichten auf. Während es bisher um die Kontrolle gegenständlicher Infrastrukturen wie TV-Kabelanbieter ging, werden jetzt auch Plattformen in „offenen“ Netzen berücksichtigt. Dies betrifft insbesondere Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amazon-Prime-Video. „Vielfaltssicherung in der digitalen und konvergenten Medienumgebung«, erläutert Bernd Holznagel, „knüpft damit nicht mehr ausschließlich an technische Kapazitätsbegrenzungen des 20. Jahrhunderts an, sondern erkennt daneben strategische Torwächterpositionen als Faktoren im medialen Meinungswettbewerb an.“

Keine Zulassungspflicht mehr für Bagatellrundfunk

Dieser Staatsvertrag gilt für die Veranstaltung und das Angebot, die Verbreitung und die Zugänglichmachung von Rundfunk und Telemedien in Deutschland in einem dualen Rundfunksystem. Der Begriff des Zugänglichmachens spiegelt dabei insbesondere die Vermittlerposition der Anbieter von Medienplattformen und Medienintermediären wider, in der diese den Zugriff auf meinungsrelevante Inhalte ermöglichen. Es werden dabei alle Angebote einbezogen, die für den deutschen Medienmarkt bestimmt sind, mithin für die Medienvielfalt in Deutschland relevant sind. Die Definition des Rundfunkbegriffs baut auf die Neufassung der AVMD-Richtlinie auf, die 2018 von der EU beschlossen worden ist. In diesem Sinne ist Rundfunk ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans mittels Telekommunikation.

Eine der Kontroversen innerhalb der Rundfunkkommission der Länder war die Frage, ob für die Veranstaltung privater Rundfunkangebote, z. B. für Internet-Streaming-Dienste, weiterhin eine Zulassung erforderlich sei oder ob eine Anmeldung genüge. Es wird auch weiterhin eine Zulassung geben, die allerdings durch eine Bagatellregelung für bundesweite Angebote ergänzt worden ist. Keiner Zulassung bedürfen künftig Rundfunkprogramme, die nur geringe Bedeutung für die individuelle und öffentliche Meinungsbildung entfalten oder im Durchschnitt von sechs Monaten weniger als 20.000 gleichzeitige Nutzer erreichen. Damit entfällt die Anzeigepflicht von Internet-Hörfunk. Entsprechende Angebote sind entweder Bagatell-Rundfunk oder regulärer Rundfunk.

Auch für Medienplattformen gilt die Diskriminierungsfreiheit und Chancengleichheit

Zu den Medienplattformen gehören insbesondere infrastrukturgebundene Medienplattformen wie Fernsehkabelnetze, mit Ausnahme von Netzen mit analoger Verbreitung, sowie Medienplattformen in offenen Netzen wie Zattoo, TV-Spielfilm, waipu, aber auch die über das Internet erbrachten Dienste beispielsweise von Giga TV etc. Nicht erfasst sind „offene“ Dienste, bei denen der Anbieter keine eigene Entscheidung über die Auswahl der zur Verfügung gestellten Inhalte trifft, wie bei Suchdiensten, sozialen Medien oder App-Stores. Bei Medienplattformen bleibt das Verbot der technischen oder inhaltlichen Veränderung ohne Zustimmung des inhaltlich Verantwortlichen erhalten. Zusätzlich wird die vollständige oder teilweise Überblendung oder Skalierung mit anderen Rundfunkinhalten oder Inhalten aus rundfunkähnlichen Telemedien verboten. Eine solche Regelung war von privaten Rundfunkveranstaltern gefordert und von Plattformanbietern abgelehnt worden. Überblendungen oder Skalierungen für Smart-Home-Anwendungen, individuelle Kommunikation, Bedienelemente der Benutzeroberfläche und Ähnliches sind davon nicht berührt. Auch für Medienplattformen gilt die Diskriminierungsfreiheit und Chancengleichheit. Rundfunk, rundfunkähnliche Telemedien und Telemedien dürfen beim Zugang zu Medienplattformen nicht behindert und gegenüber gleichartigen Angeboten nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich behandelt werden. Das betrifft auch Benutzeroberflächen, z.B. von Smart-TVs oder Set-Top-Boxen.

Algorithmen müssen transparenter werden

Für kontroverse Auseinandersetzungen nicht nur mit der EU-Kommission, sondern zuvor bereits mit den Verbänden der Internetwirtschaft und Lobbyisten der globalen Anbieter hat das Kapitel über Medienintermediäre geführt. Mit den neuen Transparenzpflichten sollen Nutzer besser erkennen können, mit welcher Systematik Algorithmen Inhalte aussortieren und anzeigen. Darüber hinaus enthält der Vertrag Maßgaben, um zu verhindern, dass Angebote gezielt besser oder schlechter behandelt werden. Medienintermediär sind laut Medienstaatsvertrag „jedes Telemedium, das auch journalistisch-redaktionelle Angebote Dritter aggregiert, selektiert und allgemein zugänglich präsentiert, ohne diese zu einem Gesamtangebot zusammenzufassen“. Sie müssen im Durchschnitt der letzten sechs Monate in der Bundesrepublik Deutschland mehr als eine Million Nutzer pro Monat erreichen.

Anbieter von Medienintermediären müssen auch künftig keine Geschäftsgeheimnisse offenlegen, aber sie sind verpflichtet, die Kriterien, die über den Zugang eines Inhalts zu einem Medienintermediär und über den Verbleib entscheiden sowie die zentralen Kriterien einer Aggregation, Selektion und Präsentation von Inhalten und ihre Gewichtung einschließlich Informationen über die Funktionsweise der eingesetzten Algorithmen, in verständlicher Sprache „leicht wahrnehmbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar“ zu halten. Die Kontrolle der Intermediäre sollen die Landesmedienanstalten übernehmen.

Novellierung des Medienkonzentrationsrechts wurde aufgeschoben

Der Medienstaatsvertrag ist ein großer Schritt zu einer modernen, digitalen Medienordnung, in der die Interessen der Contentanbieter ebenso berücksichtigt werden müssen wie die der Distributoren, und die Rechte der Urheber ebenso geschützt sind wie die der Verwerter. Doch ein wichtiger Bereich, der für die Meinungsvielfalt relevant ist, wurde nicht berücksichtigt: das Medienkonzentrationsrecht. So stellt Georgios Gounalakis, Vorsitzender der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) fest: „Marktmacht und Meinungsmacht sind nicht deckungsgleich. Das Erstarken eines Medienunternehmens durch internes Wachstum wird beispielsweise kartellrechtlich nicht erfasst, kann aber zu vorherrschender Meinungsmacht führen. Um diese zu verhindern, bleibt der Gesetzgeber aufgefordert, das Thema Reform des Medienkonzentrationsrechts auf die Agenda der Rundfunkkommission zu setzen und spezielle medienkonzentrationsrechtliche Regelungen festzuschreiben. Hierbei muss sich die Vielfaltssicherung auf alle Medienangebote erstrecken und auf den gesamten Medienmarkt ausgerichtet werden. Allein ein Gesamtmeinungsmarktmodell kann verhindern, dass ein Anbieter medien- und plattformübergreifende Meinungsmacht erlangt.“

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

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