Tahir Della & Hans Jessen 6. Juli 2020 Logo_Initiative_print.png

Black Lives Matter

Tahir Della im Gespräch

Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland vertritt die Interessen Schwarzer Menschen in Deutschland und steht für Gerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft ein – seit Mitte der 1980er Jahre. Ihr Sprecher Tahir Della spricht mit Hans Jessen über den Tod von George Floyd, die „Black lives matter“-Bewegung und (Anti-)Rassismus.

Hans Jessen: Herr Della, im Mai wurde der Afro-Amerikaner George Floyd durch Polizeigewalt getötet. Unter der Parole „Black lives matter“ breitete sich eine Solidaritäts- und Protestwelle zunächst in den USA und dann weltweit aus. Wie nehmen Sie die Entwicklung in Deutschland wahr?

Tahir Della: Mich beeindruckt das große Potenzial von Menschen, die gegen rassistische Morde und Übergriffe protestieren und sich solidarisch erklären. Ich habe mich – das ist nicht böse gemeint – allerdings auch gefragt, wo diese Menschen vorher waren. George Floyd war ja nicht der erste Fall. Der Tod des Afro-Amerikaners Eric Garner in den USA war praktisch deckungsgleich, hat aber weitaus weniger ausgelöst.

Seit 35 Jahren setzt sich die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland – ISD, deren Sprecher Sie sind, gegen Diskriminierung von People of Colour (PoC) in Deutschland ein. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Zeit offenbar jetzt reif ist für eine solch breite gesellschaftliche Bewegung?

Die Proteste werden von überwiegend jungen Menschen getragen. Nicht nur von PoC, sondern auch von sehr vielen weißen jungen Menschen. Diese Generation, das erleben wir ähnlich in der Klimabewegung, entwickelt jetzt ein Bewusstsein dafür, dass in den vergangenen Jahrzehnten viele Dinge nicht behandelt wurden. Das fällt denen jetzt auf die Füße. Bei der Klimagerechtigkeit ist das offenkundig. Ich glaube, beim Thema Rassismus verhält es sich ähnlich. Der Fall George Floyd politisiert, und die jungen Menschen schauen nun auch: Welche NGOs beschäftigen sich eigentlich schon länger mit Rassismus? Bei denen docken sie sich an, aber sie entwickeln auch eigene Formen.

Bedeuten die jetzigen Demonstrationen und Aktionen automatisch auch eine breitere und intensivere Auseinandersetzung mit fremdenfeindlichen und rassistischen Strukturen in Deutschland?

Automatisch auf keinen Fall. Man muss jetzt schon hinterher sein mit politischen Forderungen in die Parlamente, die Politik und die Gesellschaft hinein. Das muss sich verstetigen, es darf nicht nur in Form dieser Proteste stattfinden, die eine zwar große Symbolkraft haben, aber nicht automatisch zu politischen Veränderungen führen.
Wir haben uns in den letzten 30, 40 Jahren zwar in der Zivilgesellschaft intensiv auseinandergesetzt mit institutionellem Rassismus, aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Horst Seehofer z. B. empfahl sich kürzlich selbst als „Rassismus-Experten“ – letztes Jahr sprach er noch von „Migration als Mutter aller Probleme“.

Was erwarten Sie oder was fordern Sie aktuell von den staatlichen und politischen Institutionen? Ist die Situation jetzt ein Momentum für die Interessen schwarzer Menschen in Deutschland?

Schwarze Menschen und PoC sind unsere erste Zielgruppe als ISD, aber wir weisen natürlich darauf hin, dass zahlreiche andere Gruppen ebenso von Rassismus betroffen sind: z. B. Sinti und Roma, die jüdische Gemeinschaft, Migranten und Geflüchtete …
In Berlin wurde gerade das Antidiskriminierungsgesetz im Parlament verabschiedet. Wir wünschen uns, dass auch in anderen Landesparlamenten und auf Bundesebene solche Gesetze beschlossen werden, die es ermöglichen, Sammelklagen z. B. von NGOs zu erheben. Wir wünschen uns Klagemöglichkeit auch gegenüber Behörden und Institutionen. Die Beweispflicht liegt bisher bei den Betroffenen. Wir wünschen uns, dass zukünftig Behörden nachweisen müssen, dass es keine Ungleichbehandlung aus rassistischen Gründen gibt. Wir müssen auch die Diskussion führen über den Zusammenhang von gesellschaftlichem und staatlich verankertem Rassismus …

… wo sehen Sie in Deutschland staatlich verankerten Rassismus?

Wir haben das sehr deutlich gesehen bei dem Terrornetzwerk aus Thüringen, dem sogenannten NSU. Dort wurde bundesweit nach rassistischen Vorgaben ermittelt – bzw. eben nicht ermittelt. Die Polizei hat von Anfang an Angehörige und Umfeld der Opfer unter Druck gesetzt. Obwohl diese von Anfang an Verdacht auf Neonazi-Täter hatten, wollte die Polizei Aussagen gegen die jeweiligen „Communities“ haben. Ohne dass die Behörden sich verabredet hätten, wurden durch so geleitete Ermittlungen weitere Morde möglich. Bekannt geworden ist ein Bericht aus Baden-Württemberg, in dem es heißt, in Mitteleuropa sei die Ermordung von Menschen mit einem so hohen Tabu belegt, dass solche kaltblütigen Morde eigentlich nur Menschen außerhalb dieses europäischen Kontextes zuzurechnen wären. Da wird deutlich, was für ein Denken auch in institutionellen Strukturen vorhanden ist. Das sind auch nicht nur Einzelfälle, Muster wiederholen sich. Stichwort NSU 2.0: So wurden z. B. aus einer Frankfurter Polizeidienststelle Drohfaxe an eine Anwältin verschickt, die in NSU – Verfahren Nebenkläger vertreten hat. Wir wollen auf keinen Fall jeden einzelnen Beamten bzw. jede einzelne Beamtin in diesen Strukturen als „rassistisch“ markieren – aber rassistisches Handeln ist auch ohne Intention möglich, wenn es durch Vorgaben und Normen befördert wird.

Die Bewegung „Black lives matter“ schafft neue Solidarität – ist das eindimensional, oder beobachten Sie auch Polarisierung, also auf anderen Ebenen zunehmende Ablehnung und Aggression?

Diese Polarisierung ist nicht neu, wir hatten sie auch schon vor der jetzigen Protestwelle. Zunehmender Widerstand gegen eine Neuausrichtung der Gesellschaft, gegen Überprüfung auf Rassismus und Diskriminierung. Es mag etwas paradox klingen: Aber für mich ist solch wachsender Widerstand eine Bestätigung, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn wir beim Thema Rassismus auch gegenüber Polizei und Justizbehörden ein Tabu aufheben, dann erzeugt das Widerstand und den reflexhaften Vorwurf, wir würden einen Generalverdacht aussprechen. Dieser Vorwurf ist falsch, aber er zeigt, wie viel Arbeit noch vor uns liegt.

Vielen Dank!

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2020.

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