Björn Encke 3. Juni 2020 Logo_Initiative_print.png

Volks­sport Expo­nen­ti­al­kur­ven glätten

Die Rolle der Zivil­ge­sell­schaft bei der Erhal­tung von Tierarten

Als ich Kind war, lebten über viele Jahre Kleine Ameisenbären, Tamanduas genannt, in unserem Haus im Krefelder Zoo. Meine Eltern hatten sich vorgenommen, herauszubekommen, wie man diese skurrilen Tiere halten kann. So entwickelten sie eine entsprechende Futterzusammenstellung und wurden schließlich durch die Welterstzucht dieser Tiere belohnt. Noch heute gehört die Zucht von Tamanduas nicht zu den leichtesten tiergärtnerischen Übungen, aber sie ist möglich, weil wir die Grundlagen ihrer Lebensgewohnheiten verstanden haben. Andere Forscher beschäftigen sich mit Ameisen, Papageien oder Fröschen. Sie alle fügen Puzzlestücke ein in unser Verständnis der Funktionsweise von Ökosystemen, durch das wir überhaupt erst in die Lage versetzt werden, Stellschrauben zu erkennen, die für den Erhalt dieser Systeme von grundlegender Bedeutung sind.

Wie wichtig das Verständnis des Zusammenspiels des Lebens ist, wird in der gegenwärtigen Pandemie überdeutlich. Wenn man die Erde als ein Gesamtsystem betrachtet, dann hat sich der Mensch inzwischen ein globales Netz geschaffen, das seiner Struktur nach einer agrarischen Monokultur ähnelt. Monokulturen sind anfällig für Seuchen. Man könnte also Corona durchaus als eine Art Immunreaktion des Superorganismus Erde verstehen.

Neben all dem Leid begründet diese Krise aber auch eine starke Hoffnung. Erstens könnte Corona uns lehren, dass wir als Menschen alle in genau einem Boot sitzen und dabei lange nicht so unbezwingbar sind, wie wir immer dachten, zweitens bekommen wir eindrücklich vorgeführt, wie sich marktgläubige Top-Populisten in der Krise fast ausnahmslos selbst entzaubern, weil drittens die Mehrheit der Menschen, wenn es drauf ankommt, doch lieber faktenbasiert regiert wird.

Diese Einsichten sollten wir erhalten, wenn wir zu den langfristig noch bedrohlicheren Themen wie die Artenkrise zurückkehren, sie würden uns viel Zeit und Kraft schenken, zügig die richtigen Weichen zu stellen. Denn die Fakten liegen auf der Hand. Je mehr Arten aussterben, desto mehr Ökosysteme kollabieren, desto geringer werden auch unsere Überlebenschancen auf diesem Planeten. Die Bedeutung bedrohlicher, exponentiell ansteigender Kurven sind uns inzwischen geläufig. Wir wissen, was zu tun ist: „Flatten the Curve“, wir müssen die Kurve abflachen. Und dafür brauchen wir ein groß angelegtes Programm, das an allen relevanten Punkten gleichzeitig ansetzt. Die drastische Erhöhung der Mittel für Biodiversitätsforschung und deren Koordination ist einer davon, der massive Aufbau von Kapazitäten im Bereich Erhaltungszuchten ein anderer.

Eine Art zu erforschen und herauszubekommen, was sie zum Leben braucht, ist dabei die Aufgabe der Experten. Von denen arbeiten viele in Zoologischen Gärten, aber auch in wissenschaftlichen Einrichtungen und so manchem Privathaushalt finden sich Menschen mit großer Erfahrung im richtigen Umgang mit Tieren. Sie alle leisten echte Grundlagenarbeit. Diese bildet die Voraussetzung für den Aufbau dauerhaft erfolgreicher Erhaltungszuchtprogramme in Menschenobhut. Die Zoos machen seit Jahrzehnten vor, dass dieser Ansatz funktionieren kann, nur brauchen wir in Zukunft derartige Programme nicht für einige Hundert Arten, sondern für viele Tausende. Wir wissen – man möge den Vergleich entschuldigen – dass wir die Anzahl der verfügbaren „Beatmungsgeräte für Arten“ vervielfältigen müssen, wenn wir auch diese Krise bestehen wollen.

Hierfür braucht es eine gemeinsame Strategie von Zoologischen Institutionen und der Zivilgesellschaft. Bei „Citizen Science“ helfen Bürger bei der Erhebung und Auswertung von wissenschaftlichen Daten, nun brauchen wir eine starke Citizen-Conservation-Bewegung, um auch im Bereich der Arterhaltung die Agenda in die Hand zu nehmen.

Grundlegend hierfür sind starke Zoos, die ihre Funktion als fachlich zuständige Exekutivorgane im Bereich Arterhaltung ausfüllen. Seit den 1980er Jahren haben sie die Methodik koordinierter Erhaltungszuchtprogramme entwickelt, welche die Blaupause für die Programme von Citizen Conservation bilden. Das aktuelle Dilemma der Zoos: Als meist kommunal subventionierte Kulturinstitutionen stehen sie unter finanziellem Dauerdruck. Die Forderung der Kommunen: Sie mögen sich doch stärker als Freizeitinstitutionen positionieren und entsprechend Geld verdienen. In der Konsequenz ist der Zuschussbedarf der deutschen Zoos innerhalb der letzten 20 Jahre drastisch gesunken, von 60 Prozent Ende der 1990er Jahre in Richtung 20 bis 30 Prozent heute. Was die Stadtkämmerer freut, hat jedoch weitreichende Konsequenzen. So können die Zoos ihren „öffentlichen Auftrag“ in den Bereichen Arterhaltung und Forschung derzeit nur suboptimal wahrnehmen. Die Finanzierung hoheitlicher Ziele im Bereich Arterhaltung ist keine primär kommunale Aufgabe, hier ist der Bund in der Pflicht. Ein jährliches Finanzpaket im dreistelligen Millionenbereich für die rund 50 wissenschaftlich geleiteten Zoos in Deutschland wäre ein sinnvoller erster Schritt, um die notwendigen Kapazitäten in den Bereichen Forschungskoordination und Erhaltungszucht aufzubauen. Auf diese Weise kann dringend benötigtes Wissen generiert und in Anwendung gebracht werden, Grundvoraussetzung sowohl für die Effektivität von Biotopschutzmaßnahmen als auch den nachhaltigen Erfolg von Erhaltungszuchtprogrammen.

Dies allein jedoch wird nicht reichen, um die erforderliche Anzahl an Zuchtgruppen pro Art zu erreichen. Zoos haben limitierte Ressourcen. Ihre Flächen werden auch in Zukunft zum Großteil dafür genutzt werden, größeren Tieren ein artgerechtes Leben zu ermöglichen. Für Giraffe, Eisbär & Co gibt es auf absehbare Zeit keine gangbare Alternative zur Haltung in zoologischen Einrichtungen und in – ebenso gemanagten – Rest-Reservaten im Freiland. Hier kann die Zivilgesellschaft aktiv nur eingeschränkt unterstützen. Bei der Masse an kleineren Arten, also bei vielen Vögeln, Amphibien, Reptilien, Fischen, Insekten usw., aber sehr wohl.

Die gegenwärtig gerne erhobenen Forderungen nach einem Verbot privater Wildtierhaltung sind vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Dynamik der Artenkrise nicht nur kurzsichtig, sondern geradezu fahrlässig. Wir brauchen nicht weniger Wildtierhaltung, wir brauchen mehr. Und, richtig, wir brauchen bessere Haltungen, mehr Expertise, mehr Forschung, mehr Ausbildung und vor allem eine flächendeckende und effiziente Koordination der Bestände, denn unkoordinierte Bestände liefern auf Dauer keinen Beitrag zum Arterhalt.

In diesem Bereich ist Citizen Conservation heute schon aktiv und koordiniert als 2018 gemeinsam vom Verband der Zoologischen Gärten (VdZ), Deutscher Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde (DGHT) und Frogs & Friends ins Leben gerufene Initiative Erhaltungszuchtprogramme für Amphibien, an denen sich jeder, der die notwendige Sachkunde und artgerechte Unterbringungsmöglichkeiten besitzt, beteiligen kann. Diese sollen sukzessive auf weitere Tierklassen ausgeweitet werden.

Ein entscheidender Meilenstein soll die Gründung des ersten Citizen Conservation Centers (CCC) sein, das auch physisch die Lücke schließen kann zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Konzipiert als partizipatives Zuchtzentrum ist dies der nächste Schritt im Aufbau einer effektiven Citizen-Conservation-Bewegung. Angelehnt an aktuelle „urban gardening“-Konzepte erlaubt das CCC Menschen, sich außerhalb ihres eigenen Wohnumfeldes dem Thema Wildtierhaltung zu widmen, dabei dank professioneller Unterstützung die notwendigen Praktiken zu erlernen und so aktiver Teil eines Artenschutzprojektes zu werden. Mit wachsender Expertise kann so jeder Teilnehmer schrittweise mehr Verantwortung übernehmen, so dass perspektivisch ein Großteil der pflegerischen Arbeit im Zuchtzentrum von engagierten Bürgern übernommen wird. Gleichzeitig dient die Ausbildung im CCC auch der Orientierung für angehende Tierhalter, die mit dem Gedanken spielen, privat Wildtiere zu pflegen, aber nicht genau wissen, welche Arten für sie und ihre Situation geeignet sein könnten. Alle Tiere sind und bleiben dabei Teil des entsprechenden Erhaltungszuchtprogramms – ein zähl- und sichtbarer Beitrag gegen das Artensterben, der sogar Spaß macht und Sinn stiftet.

Parallel dazu erfüllt das CCC wichtige Schlüsselfunktionen für die Organisation Citizen Conservation. Aufgrund der räumlichen Kapazitäten bietet es für das Projekt erforderliche Unterbringungsmöglichkeiten für Tiere, dient als Schulungszentrum auf wissenschaftlicher wie auch zivilgesellschaftlicher Ebene und gibt der allgemeinen Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich im Rahmen edukativer Angebote oder in der Freizeit mit dem Thema Artenvielfalt und seiner Bedeutung für uns auseinanderzusetzen. Gerade im Lichte einer fortschreitenden Urbanisierung ist dieser Aspekt von enormer Bedeutung. Es reicht eben nicht, intellektuell zu verstehen, dass wir Teil des Gesamtsystems sind – wir müssen es auch erfahren können. Faszination und Verständnis sind der Schlüssel zum Respekt. Wir müssen unsere Rolle neu definieren als „primus inter pares“ im Superorganismus Erde.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2020.

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