Jo Frank & Behrang Samsami 5. Mai 2020 Logo_Initiative_print.png

Jüdi­sche Kul­tur­ar­beit auf Tour

Jo Frank über das neue Ver­mitt­lungs­pro­gramm des Ernst Lud­wig Ehr­lich Studienwerks

Im Mai 2020 sind es 75 Jahre, dass die alliierten Truppen der NS-Herrschaft in Deutschland und Europa ein Ende bereiteten. Doch auch nach einem Dreivierteljahrhundert sind der Rassismus und Antisemitismus, den die Nazis verbreiteten, noch oder wieder in Teilen der deutschen Gesellschaft wirksam. Zivilgesellschaftliche Akteure – wie der Künstler Gunter Demnig mit seinem Projekt „Stolpersteine“, die als kleine, in Boden gefasste Gedenktafeln an Einzelschicksale von Opfern der NS-Zeit erinnern, – nehmen dies jedoch nicht hin und leisten Bildungs- und Aufklärungsarbeit. Auch die Politik handelt: 2018 wurde das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus eingerichtet. Im April 2020 gab zudem das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bekannt, interdisziplinäre Vorhaben zu fördern, die Ursachen und Verbreitung von Antisemitismus untersuchen und Gegenmaßnahmen entwickeln. Für 2021 bis 2025 sollen bis zu 12 Millionen Euro bereitgestellt werden. Und wie setzen sich jüdische Künstlerinnen und Künstler mit Rassismus und Antisemitismus auseinander? Jo Frank ist Geschäftsführer des in Berlin ansässigen Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES), das eines von 13 Begabtenförderungswerken in Deutschland ist, die vom BMBF unterstützt werden. Behrang Samsami sprach mit Jo Frank über die Zielsetzung von ELES, über den Umgang mit der zunehmenden Polarisierung in Politik und Gesellschaft und über „DAGESH on tour“, das neue Programm zur Vermittlung jüdischer Gegenwartskultur in Deutschland.

Behrang Samsami: Herr Frank, Ihr Studienwerk steht nach eigener Aussage für ein traditionsbewusstes, pluralistisches und weltoffenes Judentum. Was heißt das?
Jo Frank: Seit seiner Gründung hat sich bei ELES ein starkes Profil herausgebildet. Im Vordergrund stehen akademische Exzellenz und soziales Engagement. Unser Studienwerk hat sich damit zum wichtigsten Ort jüdischer Intellektualität in Deutschland entwickelt und eine Art katalysatorische Wirkung für die Potenziale entfaltet, die in unseren Stipendiatinnen und Stipendiaten sind. Vielfalt ist uns dabei sehr wichtig. Wir fördern Jüdinnen und Juden mit unterschiedlichen denominationellen Hintergründen, aber auch säkulare Jüdinnen und Juden. Sie alle zusammenzubringen, heißt für uns auch, „Pluralitätsarbeit“ zu leisten und zu schauen, wie wir bei den unterschiedlichen Voraussetzungen gemeinsam Ziele realisieren können. Diese Ziele sind innerjüdische, aber auch solche, die auf die ganze Gesellschaft ausgerichtet sind. Wir fragen, wo wir uns in der großen Gemengelage befinden, aber auch, wie wir Gesellschaft gestalten können. Uns macht daher dies beides aus: Zum einen Traditionsbewusstsein auf der religiösen Ebene und was die Pflege jüdischen Lebens betrifft, zum anderen Offenheit für unsere Gesellschaft und der Wunsch, sie mitzugestalten.

Wen fördert ELES?
Jüdinnen und Juden aus der Bundesrepublik beziehungsweise der Europäischen Union. Ich will hinzufügen, dass unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten, bedingt durch die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und vor allem seit der Implosion der Sowjetunion zu 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben. Von den 90 Prozent haben etwa 80 Prozent einen postsowjetischen Hintergrund. Und das prägt auch unsere Arbeit. Migrationserfahrung, aber auch intergenerationelle und identitätsgebundene Fragen spielen hier eine wichtige Rolle: Was heißt es, wenn ich aus einem Land komme, das es in der Gegenwart nicht mehr gibt? Wie ist meine Beziehung zu den Staaten, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind? Was ist meine Beziehung zu diesem Land, in dem ich jetzt lebe, und zu Europa? Natürlich ist auch Israel Gegenstand unserer Bildungsarbeit. Es sind also komplexe Fragestellungen, mit denen wir uns befassen. Und genau da entsteht die künstlerische Auseinandersetzung, kommt ihr mit diesen verschiedenen Fragestellungen eine besondere Bedeutung zu.

Wir erleben seit einigen Jahren eine starke Polarisierung und Emotionalisierung der Politik und Gesellschaft. Die AfD sitzt in allen Landtagen und im Bundestag. Und im Oktober 2019 versuchte ein Rechtsextremist am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in eine Hallenser Synagoge einzudringen, um die Menschen dort zu töten. Da es ihm nicht gelang, tötete er zwei Personen außerhalb des Gebäudes. Wie geht Ihr Studienwerk damit um?
Im Oktober 2019 haben wir unser 10-jähriges Jubiläum mit einem großen Festakt mit Hunderten von Gästen im Jüdischen Museum Berlin gefeiert. Das war genau ein Tag nach dem Anschlag in Halle. Sie können sich vorstellen, dass die Veranstaltung ein Drahtseilakt war: Zwischen dem Umgang mit der Trauer und der Wut, in was für einer Gesellschaft wir leben, in der so etwas möglich ist, und der Würdigung unserer Arbeit und dem Einsatz für ein sichtbares und selbstbewusstes Judentum in Deutschland.

Wir hatten Stipendiatinnen und Stipendiaten, die am Vortag in der Synagoge in Halle waren und Angst um ihr Leben hatten. Es war daher wichtig, dass sie einen Tag nach dem Anschlag bei uns waren – auch um Halt zu bekommen und das Gefühl der Geborgenheit zu haben. Alle, denke ich, die beim Festakt waren, haben den Raum später mit dem Gefühl verlassen, dass es eine starke Resilienz in der jüdischen Gemeinschaft gibt. Aber man hat auch eine Gemeinschaft erlebt, die lautstark einfordert, an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt zu werden, und die sagt, dass sie auch Verantwortung für sich und für andere übernehmen will.

Was sagen Sie zur AfD?
Das Erstarken einer rechtsextremistischen Partei in Deutschland und der Rechtsruck in Europa haben natürlich direkte Auswirkungen auf uns und unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten. Ihr Erstarken ist auch ein deutliches Zeichen, dass viele Bemühungen der vergangenen 20 Jahre gescheitert sind. Wir müssen uns daher auf vielen Ebenen von Wunschvorstellungen verabschieden und uns mit den Realitäten der Gesellschaft klarer und ehrlicher befassen. Der Einfluss der Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten ist kein peripherer. Sie haben bereits realen Einfluss auf politische Prozesse, auf Bildungs- und kulturelle Programme – und nicht zuletzt auf die Wahrnehmung Deutschlands im Ausland. Letzterer Punkt ist für uns stets ein Thema in den Diskussionen mit unseren internationalen Partnerinnen und Partnern. Das muss uns alle, uns als Gesellschaft, zum entschlossenen Einsatz gegen rechts aufrütteln.

Das, was wir bei ELES machen, ist den Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie ihren jeweiligen Communities zu sagen: In Anbetracht dieser Situation gibt es mehrere Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen, aber die Möglichkeit, leiser zu werden, besteht für uns nicht. Wir müssen im Gegenteil lauter werden, Verbündete finden und Beziehungen der Resilienz aufbauen. Wir müssen mehr selbst tun und auch mehr Aufmerksamkeit in Politik, Wirtschaft und Kultur für die katastrophalen Auswirkungen auf dieses Land erzeugen.

ELES hat Förderprogramme für Studierende, Promovierende und Künstlerinnen und Künstler wie „DAGESH“. 2019 wurde zudem mit „Karov-Qareeb“ ein jüdisch-muslimischer Think Tank initiiert. Nun gibt ein neues Programm, das jüdische Kultur vermitteln soll.
Es heißt „DAGESH on tour“ und ist auf zweieinhalb Jahre angelegt. Wir arbeiten aber mit dem Ziel, das Ganze zu verstetigen. Wir sind davon überzeugt, mit „DAGESH on tour“ ein Tool gefunden zu haben, das es bisher noch nicht gab und das eine große Zukunftschance besitzt.

Das neue Programm hat also schon begonnen?
Die Vorbereitungen laufen schon länger. Jetzt hat uns allerdings das Coronavirus ausgebremst. Wie viele andere sind auch wir dabei, Teile des Programms vorübergehend in den digitalen Bereich zu überführen. Aber natürlich hoffen wir, dass der Alltag bald zurückkehrt, um das Programm in vollem Umfang in der digitalen und analogen Welt umzusetzen. Denn die reale Begegnung und die gemeinsame Arbeit von Künstlern und Jugendlichen lassen sich durch digitale Formate nicht ersetzen.

Bevor wir über „DAGESH on tour“ sprechen: Was macht „DAGESH“ aus?
DAGESH ist ein einmaliges Netzwerk jüdischer Künstlerinnen und Künstler in Europa. Es sucht mit Ausstellungen, Lesungen, Filmen und Kooperationen den Austausch mit der Gesamtgesellschaft. DAGESH ist also ein produktives jüdisches Kultur-Netzwerk. Gleichzeitig ist es auch ein bildungspolitisches Programm: Wir erleben bei unseren Stipendiatinnen und Stipendiaten, dass sie aus Klassenverbänden kommen beziehungsweise in Hochschulkontexten unterwegs sind, in denen es nur wenig Wissen über Jüdinnen und Juden, über das Judentum insgesamt gibt. Jüdinnen und Juden werden weiterhin stark durch das Prisma von Shoah, Israel und das wenige im Unterricht Gelernte gesehen. Mit lebendigem jüdischen Leben hat das alles nicht viel zu tun. Und da setzt „DAGESH“ an. Es ist ein Programm, das auf zwei Ebenen aufgebaut ist: Zur Förderung von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern in Deutschland und zur Vermittlung jüdischen Lebens in Deutschland und Europa.

Wir haben mit „DAGESH“ bisher viel auf die Beine gestellt, etwa im Dezember 2019 ein Festival im Literaturhaus Berlin mit knapp 30 jüdischen Autoren, Filmemachern und Schauspielern, um über verschiedene Dimensionen jüdischer Literaturproduktion zu sprechen. Wir bieten Künstlerinnen und Künstler zudem Seminare und Workshops an, die sie vernetzen und bei denen sie auch besprechen sollen, woran sie arbeiten. Für uns spielt diese Schnittstellenarbeit eine wichtige Rolle – hier die Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft. Dazu gehört die Produktion, aber auch die Rezeption von Kunst.

Können Sie das konkretisieren?
Unsere Veranstaltungen haben uns gezeigt, dass die Kunst uns die Chance bietet, innerjüdisch über jüdisches Leben in Deutschland zu reflektieren, aber auch jüdisches Leben in die Gesellschaft zu vermitteln. Aus dieser Einsicht haben wir mit „DAGESH on tour“ einen pädagogischen Zweig aufgebaut und sind jetzt dabei, ihn weiterzuentwickeln: Es soll darum gehen, dass jüdische Künstlerinnen und Künstler Jugendliche in Ateliers, Schulen, aber auch in Bildungseinrichtungen anderer Träger treffen, um über ausgewählte Kunstwerke und dadurch auch über jüdisches Leben in Deutschland in der Gegenwart ins Gespräch kommen. Das Format erlaubt Jugendlichen, sich ausführlicher mit einem Kunstwerk zu befassen. Dadurch erhält das Werk auch den Charakter einer Projektionsfläche: Jeder kann offen, das heißt, mit allen Fragen, aber auch Vorurteilen, die vielleicht schon gegenüber jüdischem Leben angelegt sind, an das Kunstwerk herantreten. Die Künstler und Pädagogen können Fragen beantworten und mit den Jugendlichen diskutieren. Unseres Erachtens hilft gegen die Einübung von Vorurteilen gegenüber jüdischen Menschen auch die Einübung von Realität – und diese Einübung von Realität geht über diskursive partizipative Prozesse.

Was wäre ein Kunstwerk, das sich für eine solche Diskussion anbieten würde?
ELES und das Jüdische Museum Berlin haben den „DAGESH“-Kunstpreis ins Leben gerufen, mit dem junge jüdische Künstlerinnen und Künstler für eine Arbeit ausgezeichnet werden. 2019 wurde die Installation „Open, Closed, Open“ prämiert, ein Kooperationsprojekt des Produktdesigners Yair Kira, der bildenden Künstlerin Liat Grayver und des Komponisten Amir Shpilman. Die Installation verbindet Medienkunst, Robotik, Raum, Licht und Klang mit der Interaktion der Besucherinnen und Besucher und dreht sich um die Frage, was Jüdischsein in der Gegenwart bedeutet. Das wäre ein solches Kunstwerk, das uns Anlass für Fragen und Befragung bietet, in dem wahnsinnig viel über jüdisches Leben zu lernen ist.

Kunstvermittlung als Akt der Selbstbegegnung und der Aufklärung.
Und der Selbstermächtigung. Wir wollen diskutieren, was sonst nicht sichtbar genug ist: Wie ist eigentlich jüdisches Leben? Welche Fragen werden in der jüdischen Gemeinschaft reflektiert? Wir fragen aber auch: Gibt es Schnittpunkte zu anderen Gemeinschaften? Migration ist hier ein gutes Beispiel, weil diese Erfahrung eine ist, die die jüdische Gemeinschaft mit anderen in einer Einwanderungsgesellschaft, wie Deutschland eine ist, teilt. Das heißt: Wir suchen Gespräche, Austausch, Auseinandersetzung und vor allem produktive Zusammenarbeit. So hoffen wir, einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich mehr Menschen vorstellen können, was jüdisches Leben in Deutschland ist. Damit zielen wir auch auf eine Veränderung des Prismas von Shoah, Israel und das im Unterricht Gelernte, das ich vorhin genannt hatte. Langfristig sehen wir „DAGESH on tour“ als einen wichtigen Beitrag in der Arbeit gegen Antisemitismus.

Vielen Dank.

Dieses Interview ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2020.

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