Klaus Ulrich Werner 20. Dezember 2019 Logo_Initiative_print.png

Nein, die Wie­der­ver­ei­ni­gung ist kein ver­schos­se­ner Elfmeter!

Reak­tion auf „Ver­geigt“ von Olaf Zim­mer­mann in Poli­tik & Kul­tur 11/19

Wenn „vergeigt“ umgangssprachlich eine Aktion meint, die in guter Absicht, aber mit dilettantischer Unfähigkeit durchgeführt, im Ergebnis ein Misserfolg wird, und synonym ist mit „vermasseln“, „verbocken“ oder „in den Sand setzen“, dann liegt Olaf Zimmermann hier falsch. Nein, wir haben die Wiedervereinigung nicht in den Sand gesetzt, und es war auch kein „Betriebsunfall“.

Was sagt heute der Sohn meiner Potsdamer Freunde, die mein Schlüsselloch in die DDR waren, eine Freundschaft in der typischen West-Ost-Schieflage: die stets einseitigen Besuche und die fragenden Nachbarn („Schon wieder West-Besuch?“), Telefonate mit konspirativen Codes, Carepakete hin und LPs von Gerhard Schöne zurück. Die Angst des jungen Pazifisten vor dem Dienst in der Armee, die deprimierende Erkenntnis wegen nicht staatskonformer akademischer Eltern nicht studieren zu können. Wie lief sein Leben in der „vergeigten Einheit“? Er verließ sofort seine Schule, machte seinen Schulabschluss in West-Berlin – „Ich kann den Lehrern nicht mehr glauben“–, dann Zivildienst, verwirklichte seinen Berufstraum, blieb familiär und kulturell verankert: Es ging ihm um individuelle Entfaltung in einem freien Gemeinwesen, nicht um Reisen, Auto, Westen.

Mein Geschichtsprofessor Hans-Günter Zmarzlik versuchte uns Studierenden zu erklären: Bei der Betrachtung historischer Ereignisse gehe es nicht darum, sich mit der »möglichen Wirklichkeit« zu beschäftigen („Wie war es wirklich?“), sondern es gelte die „wirkliche Möglichkeit“ zu erforschen – welche Ideen und welche Handlungsoptionen standen zur Verfügung. Zugegeben, nach dem Fall der Mauer wurde das Denkbare nicht ausgeschöpft: Der Westen war auf Beitritt fixiert, im Osten wurden die Wünsche der Menschen verständlicherweise sehr schnell von der DM und den Verheißungen der Konsumgesellschaft dominiert. Richtig, wir Wessis haben uns selbst nicht infrage gestellt, haben die historische Chance für einen Neuanfang nicht ergriffen, z. B. eine gemeinsame neue Verfassung. Und in der DDR entschied sich die frei gewählte Volkskammer in ihrer erst 30. Sitzung im August 1990, sicherlich die Mehrheit der Menschen repräsentierend, zur schnellen Wiedervereinigung, die das Land zum „Beitrittsgebiet“ machte – „auf Augenhöhe“ hätte anders ausgesehen, von beiden Seiten.

Das Denken in Kategorien „Sieger“ und „Besiegte“ führt aber nicht weiter. Meine Gegenthese: Die Wessis fühlten sich bei der Wiedervereinigung nicht als Sieger, denn der Westen stand ja in gar keinem Wettbewerb zur DDR: Wir fühlten uns sowieso haushoch überlegen! Deshalb gibt es auch keine Besiegten – die militärische Metapher trifft es nicht. Die Wiedervereinigung war ein großes Glück der Geschichte und ist im Hier und Heute erfolgreich. Trotzdem mag auch ich den Begriff „Erfolgsgeschichte“ nicht, denn es war ja tatsächlich kein wirklich gut geplantes, aber eben auch kein planbares Billionen-Projekt – übrigens wird immer nur vom Geldtransfer in den Osten gesprochen, wenig von der Wirtschaftsleistung der Bürger in und aus den neuen Ländern – und gesellschaftspolitisch war es ein historisch einzigartiges Unterfangen ohne Vorbild. Gewonnen haben die Allermeisten; aber ja, auch Verlierer gab es. Und wer sich als zurückgelassen empfindet, dem darf man diese Gefühle nicht absprechen, sondern man muss sich konkret kümmern und das auch nachvollziehbar vermitteln.

Bundeskanzler Helmut Kohl legte nach dem Mauerfall noch im November 1989 ein Tempo in Richtung Einheit vor, dass vielen von uns im Westen schwindelig wurde. Er war in dieser Situation tatsächlich ein visionärer Realist, naiv war lediglich die Einschätzung der wirtschaftlich-materiellen Situation der DDR-Volkswirtschaft; diese Fehleinschätzung machte dann Treuhand-Auswüchse, das sogenannte „Plattmachen“, erst möglich. Die Kultur hatten wir im Westen mitnichten „abgeschrieben“, schon gar nicht die Menschen „drüben“! Zur wiedervereinigten Kultur gehörten die gemeinsamen Verpflichtungen aus der deutschen Geschichte, aber auch die Heimat von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, die Deutsche Klassik, die Bühnenkunst, Alleen und historische Landschaften, die es trotz LPGs und Raubbau an der Natur gab. Für Identitätsstiftendes in der DDR-Alltagskultur hat sich der Westen weniger interessiert.

Im Einheitsvertrag heißt es: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation.“ Das war wohl eine zu bildungsbürgerlich geprägte idealisierende Vorstellung von Deutschland als einer in zwei Staaten existierenden Goethe-und-Schiller-Kulturnation. Und weiter: „Sie (Kunst und Kultur; Anm. d. Autors) leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag.“ Was wir jetzt nach 30 Jahren sehen: Dieser Prozess dauert länger als gedacht und es gibt Rückschläge, trotzdem gilt es ihn weiterhin unbeirrt zu gestalten, und daran arbeitet auch Olaf Zimmermann mit Leidenschaft – und vergeigt höchstens mal ein Editorial: geschenkt!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.

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