Mit Mut den Osten gestalten
Erfahrungen und Reflexionen eines Wendekindes
Der Leipziger Tilmann Löser ist Sprecher des Netzwerks 3te Generation Ostdeutschland. Für Politik & Kultur reflektiert er seine Wurzeln, befasst sich mit der Nachwendezeit und beschreibt das Gesellschaftslabor Ostdeutschland.
Wo liegen meine Wurzeln?
Meine Wurzeln liegen in einem Land, dass es heute nicht mehr gibt, der DDR. Ich wurde 1983 in Leipzig geboren und dort 1989, im Jahr der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls, in die 43. Polytechnische Oberschule eingeschult. Meine Eltern waren Teil des kirchlichen Oppositionsmilieus und in Umweltgruppen aktiv. Nach der Freude über die erreichten persönlichen und gesellschaftlichen Veränderungen 1989 kam in unserer Familie schnell ein Gefühl der Enttäuschung auf. Meine Mutter verlor Anfang der 1990er Jahre ihre Stelle als Wissenschaftlerin und wurde in die Verwaltung versetzt. Mein Vater wurde arbeitslos.
Ich habe erlebt, wie ein System von heute auf morgen verschwinden kann und dass die Welt veränderbar ist. Die Erfahrung der Friedlichen Revolution ist für mich ein wichtiger positiver Orientierungspunkt. In Ostdeutschland gibt es oft spezifische kulturelle Herausforderungen, beispielsweise die Aufarbeitung der NS-Zeit in den Familien, die positive Verortung in der Demokratie und der Umgang mit anderen Kulturen. Es ist nicht alles vorgezeichnet und in Stein gemeißelt. Das macht es herausfordernd. Diese Herausforderungen nehme ich gerne an.
Wie habe ich die Nachwendezeit erlebt?
Die Zeit nach der Wende war eine ambivalente, die ich zwischen wertvollen und besonderen Reisen nach Skandinavien und Italien und einer großen ideellen Leere und Unsicherheit verbracht habe.
Nach NS-Ideologie und DDR-Sozialismus brachte uns die Bundesrepublik zwar viel Freiheit, aber auch viel Unsicherheit. Und die Geburt der Demokratie war für viele Menschen im Osten, im Gegensatz zu den Wirtschaftswunderjahren in Westdeutschland, nicht primär mit Wohlstand verbunden, sondern vielerorts mit Unsicherheit und Arbeitslosigkeit der Eltern. Außerdem konnte das geistige Vakuum, dass das Ende des Sozialismus hinterließ, gar nicht so schnell gefüllt werden, wie es entstanden war. Menschen, die 40 Jahre lang in der DDR aufgewachsen waren, legten diese Prägungen nicht mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung ab. Junge Menschen waren schnell anschlussfähig für rechte Ideologien und sind es leider bis heute.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich durch eine freie Schule mit vielen progressiven Ideen und Personen in Kontakt kam und später durch mein Musikstudium in Leipzig, Brüssel und Boston viele neue Eindrücke und Erfahrungen aufnehmen konnte.
Was eint die Wendekinder?
Uns sogenannte Wendekinder eint die Erfahrung, in zwei Systemen aufgewachsen zu sein: einen Teil unserer Kindheit haben wir in der DDR verbracht. Später sind wir im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. Diese Doppelsozialisation teilen ca. 2,4 Millionen Menschen, die zwischen 1975 und 1985 in der DDR geboren wurden und heute zwischen 35 und 45 Jahre alt sind. Sie ist für uns ein unsichtbares Band, das uns verbindet. Unsere spezifische Erfahrung divergiert, je nachdem in welchem Jahr wir geboren sind, wie stark uns die DDR noch geprägt hat bzw. wie unsere Familien politisch eingestellt waren und was wir in den Nachwendejahren erlebt haben. Einzelne Jahre können da große Unterschiede machen. Wir bezeichnen uns als Dritte Generation Ost, ein soziologisches Konstrukt, das mittlerweile ein etablierter Begriff in der Forschung und den Medien geworden ist. Das Gefühl, mit unseren Perspektiven nicht vorzukommen, hat uns zusammengeführt. Einige aktive Personen haben sich zum „Netzwerk 3te Generation Ost“ zusammengefunden.
Wie ist das Netzwerk 3te Generation Ost entstanden, was machen wir?
Konkreter Anlass zur Entstehung des Netzwerks 3te Generation Ost war eine Fernsehsendung mit Anne Will zum Thema „20 Jahre Mauerfall“ 2009. Adriana Lettrari, 1979 geboren in Rostock und aufgewachsen in Neustrelitz, fragte sich, warum in Sendungen über den Osten meistens entweder nur ältere Ostdeutsche oder Westdeutsche zu Wort kamen. Stattdessen wollte sie ihre Generation sichtbar machen und an dem Diskurs beteiligen. Dieses Anliegen traf 2010 einen Nerv und Adriana Lettrari viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Mit mehreren Generationstreffen, einer Bustour und dem Buch „Dritte Generation Ost – Wer wir sind, was wir wollen“ gelang es, Menschen zusammenzubringen und den Diskurs über den Osten mit neuen Perspektiven zu beleben, das Netzwerk 3te Generation Ost war geboren.
Nach einer ersten Phase der Entwicklung, die vor allem die biografischen Gemeinsamkeiten der Wendekinder in den Fokus stellte, kam auch bald die Frage auf, was denn der gesellschaftliche Auftrag unserer Generation sein könnte.
Heute engagieren sich zahlreiche Menschen unserer Generation dafür, unser wiedervereinigtes Deutschland positiv zu gestalten und zum gesellschaftlichen Frieden beizutragen. Das Netzwerk 3te Generation Ost hat dabei vor allem folgende Ziele:
- Wendekinder stärken und ermutigen, sich gesellschaftlich zu engagieren.
- Wendekindern und jungen Ostdeutschen Gehör zu verschaffen.
- Den Diskurs über Ostdeutschland von etablierten Klischees zu befreien.
- Die Gesellschaft in Deutschland und Europa progressiv zu gestalten.
Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen haben einmal mehr gezeigt, dass der Osten in vielem anders tickt. Das gute Abschneiden der AfD hat viele von uns erschreckt. Wirklich überrascht hat es mich nicht mehr. Auch durch das Doppeljubiläum 30 Jahre Friedliche Revolution/Deutsche Einheit gibt es gerade ein Zeitfenster, in dem Ostdeutschland medial stark wahrgenommen wird. Dabei darf der Fokus aus unserer Sicht nicht bei den negativen Stereotypen stecken bleiben.
Ostdeutschland ist für uns ein Gesellschaftslabor für die Zukunft: Viele Initiativen vor Ort schöpfen Fülle aus dem Mangel und wirken innovativ vor Ort. Wir brauchen heute dringender denn je Initiativen, die die spezifischen Erfahrungen in Ostdeutschland berücksichtigen und mit Mut den Osten progressiv gestalten. Wir Wendekinder sind dafür prädestiniert, jetzt Verantwortung zu übernehmen, weil wir einerseits Ostdeutschland von innen kennen, und andererseits jetzt in einem Alter sind, wo wir Führungsaufgaben übernehmen können und müssen. Daher begrüßen wir Online-Initiativen wie „Wir sind der Osten“ und den #derandereosten, weil sie zeigen, wie vielfältig Ostdeutschland ist. Wir fordern jedoch auch mehr Repräsentation von Ostdeutschen in Führungspositionen, weil wir überzeugt sind, dass nur dadurch der soziale Frieden und Vertrauen in politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entscheidungen erreicht werden kann.
Wofür engagiere ich mich heute?
Seit 2016 engagiere ich mich im Auftrag der Stiftung Friedliche Revolution für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft. In dem Projekt „Klänge der Hoffnung“ bringen wir Personen mit und ohne Fluchtgeschichte musikalisch zusammen, organisieren Netzwerk-Treffen und Konzerte und verbinden so Menschen, die sich für ein integriertes Deutschland einsetzen. Ist es nicht auch das, was Ost und West heute verbindet, dass wir, wenn wir hinter die Geschichte der Teilung (1949-1989/90) zurückschauen, gemeinsam dem ultimativen Abgrund der deutschen Geschichte ins Auge sehen? Und brauchen wir nicht heute mehr denn je eine positive integrierende Gemeinschafts-Vision, die uns alle verbindet: Menschen aus Ost, West und mit Migrationsgeschichte? Für mich kann Musik ein Symbol sein, diese Vision sicht- und hörbar zu machen.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2019-01/2020.