Erinnerung und Fragment
Cana Bilir-Meier über ihre künstlerische Auseinandersetzung mit unsichtbaren und widerständigen Geschichten
Migration und Erinnerung, Rassismus und seine Folgen, Geschichte(n) und Geschichtsschreibung: Die 1986 in München geborene Filmemacherin Cana Bilir-Meier setzt sich in ihren künstlerischen Arbeiten immer wieder mit diesen Themen auseinander. Ein Beispiel: In einem mit dem Namen ihrer Tante Semra Ertan betitelten, gut siebenminütigen Video von 2014 gedenkt sie ihrer anhand öffentlichen und privaten Archivmaterials. Mehrere Gedichte, Ausschnitte aus westdeutschen und türkischen TV-Sendungen und Interviews, Fotos der Tante und persönliche Dokumente werden meist in kurzen Sequenzen hart aneinandergeschnitten. Zum Hintergrund: Semra Ertan, 1956 in der Türkei zur Welt gekommen, zog 1972 zu ihren Eltern in die Bundesrepublik. Hier arbeitete sie als technische Bauzeichnerin und Dolmetscherin und schrieb über 350 Gedichte. 1982 verbrannte sie sich in Hamburg, um gegen Rassismus in Westdeutschland zu protestieren. Ihre Nichte bereitet derzeit eine mehrsprachige Buchausgabe der Gedichte vor.
Bilir-Meier studierte Künstlerisches Lehramt sowie Kunst und Digitale Medien an der Akademie der bildenden Künste Wien. Behrang Samsami spricht mit ihr über ihre Arbeiten zu migrantischen Lebenswelten, Rassismus im Kunstbetrieb und die Ausstellung „Tell me about yesterday tomorrow“, die Ende November 2019 im NS-Dokumentationszentrum München eröffnet wird.
Behrang Samsami: Frau Bilir-Meier, sollte man kurz sagen, was Sie als Künstlerin leisten, fällt mir diese Formel ein: Geschichtsaufarbeitung und Erinnerungsarbeit in Form von Fragmenten.
Cana Bilir-Meier: Das ist eine passende Zusammenfassung. Mein Ausgangspunkt sind oft private Archive. Hier liegen Geschichten, bei denen ich ansetze. Aus Material aus unserem Familienarchiv etwa ist der Film über meine Tante Semra Ertan entstanden. Dass wir familiär verbunden sind, ist darin jedoch kein Thema. Mir ist wichtig, dass die Geschichten, die ich erzähle, vom Privaten ins Öffentliche hinausgehen. Zugleich geht es um die Beziehungen zwischen Privatem und Öffentlichem und die zwischen Geschichten und Erinnerungen.
Das „Fragment“ ist ein gutes Bild für meine künstlerische Arbeit, weil meine Filme nur ein Teilstück zeigen oder wie Mosaiken in der Geschichtserzählung oder Repräsentation sind. Dabei erzähle ich bewusst aus einer migrantischen Perspektive und das Fragment erlaubt es mir, diese Leerstelle zu füllen, aber auch zu betonen, dass es immer diese verschiedenen, vielfältigen Perspektiven braucht und ich nicht alle Leerstellen füllen kann. Die Schlagworte „migrantisch“, „Erinnerung“ und „Geschichte“ sind hier wichtige Begriffe, weil sie mein Tun stets hinterfragen und antreiben: Wer und wie wird in der Geschichte repräsentiert? Wer ist sichtbar in der Geschichtserzählung und wer nicht? Wem hören wir zu und wem nicht? Mich interessieren diese verborgenen Geschichten, die „Hidden Histories“, die nicht in offiziellen Geschichtsschreibungen zu finden sind. Es sind diese, die widerständig sind und diese Konstruktionen hinterfragen.
Woraus speist sich Ihr Interesse für das bisher Nicht-Erzählte, Nicht-Gezeigte?
Für mich haben die oben gestellten Fragen auch einen persönlichen Bezug, weil das Migrantische ein Teil meiner (Familien-)Geschichte ist. Ich habe diesen Zugang und dieses Wissen – und das ist auch, was mich interessiert. Meine Arbeiten stellen Geschichten und Biografien dar, die sich mit migrantischen Lebensweisen auseinandersetzen, die in der hiesigen Geschichtsschreibung nicht oder kaum sichtbar sind. In der Schule etwa habe ich nichts zur Geschichte der „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik gelernt. Ich habe das mir alles durch Interviews und Gespräche mit meiner Familie angeeignet. Daraus entstanden Fragen wie: Warum sind meine Großeltern in den 1960ern nach Westdeutschland gekommen? Parallelen sehe ich hier zur deutschen Kolonialgeschichte. In den vergangenen Jahren hat sich durch Aktivistinnen und Aktivisten sowie Künstlerinnen und Künstler viel bewegt. Inzwischen befassen sich auch die Medien stärker mit dem Kolonialismus. Nach wem heißen die Straßen in den Städten? Wer wird da genannt? Wer ist da sichtbar? Wer ist bisher nicht sichtbar?
Wer ist Ihr Zielpublikum?
Ich bin Künstlerin, Filmemacherin, aber auch Kunstpädagogin und arbeite auch in kuratorischen Kontexten. Ich habe etwa in München mit „Lothringer 13“ einen Kunstraum für zeitgenössische Gegenwartskunst mit geleitet. Hier haben wir Workshops, Filmscreenings und Talks veranstaltet. Ich spreche zwar aus einer bestimmten Perspektive heraus. Aber natürlich ist es mein Wunsch, viele verschiedene Menschen in der Gesellschaft zu erreichen.
Ich arbeite auch mit Museen zusammen und werde eingeladen, für eine Ausstellung ein Begleit- oder ein pädagogisches Programm für Schülerinnen und Schüler zu entwickeln. Dann sind diese mein Zielpub-likum.
Meine Arbeit beginnt jedoch nicht mit der Frage, wen ich erreichen möchte, sondern am Anfang steht der Inhalt. Ob das nun ein Workshop, ein Film, eine Fotografie oder etwas anderes ist.
Allerdings ist mir durch die Erfahrungen vor allem mit den staatlichen und institutionellen Museen in Deutschland klar geworden, dass sie nur ein bestimmtes Zielpublikum ansprechen. Ergo: Es werden sehr viele andere Menschen ausgeschlossen. Daher ist es mir in meiner Arbeit genauso wichtig, eine Beziehung zu verschiedenen, auch migrantischen Initiativen und Gruppen aufzubauen, damit auch sie einen Bezug zu dem in den Museen präsentierten Werken haben und diese Orte aufsuchen.
Können Sie das konkretisieren?
Es bedarf einfach viel Engagements. Da kann man sich nicht einfach hinstellen und sagen, dass die genannten Gruppen nicht ins Museum kommen, sondern man muss viel Energie investieren, damit eine Beziehung entstehen kann. Das ist eine Bereicherung. Ein Beispiel: Im Kunstverein Hamburg habe ich 2019 ein großes Rahmenprogramm gestaltet. Wir hatten verschiedene Kooperationspartner, etwa das St.-Pauli-Archiv, das Stadtteilzentrum Kölibri, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und viele antirassistische Initiativen. Wir hatten daher ein sehr diverses Publikum auch in der Ausstellung im Kunstverein.
Dieses Vorgehen zwingt mich – zwingen hier in einem ganz positiven Sinne –, meine Arbeit selbst immer wieder zu hinterfragen: Wie tue ich diese Dinge? Was soll beim nächsten Mal anders sein?
Das Stichwort Rassismus ist gefallen. Sie waren Ende 2018 an einer Diskussion in den Münchner Kammerspielen beteiligt und haben danach den Protestbrief „We are sick of it“ mit initiiert.
Der Auslöser war ein Gespräch zwischen dem Kurator Kasper König und mir. Das Thema war ausgerechnet der Rechtsruck in Deutschland. Es fielen rassistische Äußerungen gegenüber migrantischen Menschen durch König. Auch mir gegenüber gab es eine Vorannahme oder Anklage, dass ich, vereinfacht ausgedrückt, Preise gewinne, weil ich einen exotischen Namen habe. Hinzu kam, dass die Art und Weise, wie ich arbeite, von außen nicht als Kunst bezeichnet, sondern abgetan wurde. Ich habe mich gewehrt und in den sozialen Medien davon berichtet, was mir passiert ist. Die Reaktion: Viel Solidarität, aber auch genauso viele Angriffe, warum ich mich denn wehren würde, und dass das, was ich wahrgenommen hätte, nicht rassistisch gewesen oder es doch nicht so schlimm gewesen wäre. Ich habe mich daraufhin mit migrantischen, schwarzen, indigenen, lesbischen, queeren und trans Kunstschaffenden zusammengetan. Wir beschlossen, ein Manifest zu schreiben, da wir merkten, dass der Vorfall personalisiert wurde. Nach dem Motto: Das Ganze sei nur ein persönliches und individuelles Problem zwischen zwei Personen und, da sich König bei mir entschuldigt hätte, doch nun vorbei. Wir als Kollektiv wollten mit dem Protestbrief deutlich machen, dass es sich um keinen Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem handelt und wir dieses Thema nicht mehr hinter verschlossen Türen verhandeln wollen. Dass uns Kunstschaffenden immer wieder unsere Herangehensweise abgesprochen wird, wie und was Kunst ist, wir von Kunst- und Kulturinstitutionen und Universitäten objektiviert werden und diese bestimmen, wie Kunst- und Wissensproduktion aussehen müssen, in welcher Sprache sie artikuliert werden dürfen, wer wie über wen spricht. Um nur einige Punkte zu nennen.
Wie sehen Ihre Forderungen aus?
Wir müssen darüber sprechen, welche Formen als Kunst anerkannt und welchen das Kunst-Sein abgesprochen wird. Diskriminierung habe ich schon genauso erfahren wie die anderen Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Protestbriefs. Im Brief ging es darum, Rassismus-Erfahrungen zu versprachlichen und auch die Abhängigkeitsverbindungen aufzuzeigen. Manche Kunstschaffende können etwas sagen, manche nicht. Es ist eine privilegierte Haltung, sich wehren zu können. Es war nicht einfach. Es gab aber viel Solidarität und ich bin auch nicht die Erste, die Kritik an den strukturellen Problemen im Kunstbetrieb ausgesprochen hat. Es gibt eine Geschichte des kollektiven Aktivismus, auf die wir zurückgreifen können, wie etwa das Bündnis kritischer Kulturpraktikerinnen und -praktiker, das ein Zusammenschluss kritischer Kulturschaffender und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist.
Im November 2019 wird „Tell me about yesterday tomorrow“, eine Ausstellung unter der künstlerischen Leitung von Nicolaus Schafhausen, im NS-Dokumentationszentrum München eröffnet. Worum geht es dabei und mit welcher Arbeit beteiligen Sie sich daran?
Das Projekt zeigt über 30 Arbeiten, die sich kritisch mit institutioneller Erinnerungsarbeit und deren Verantwortung auseinandersetzen. Zwischen November 2019 und August 2020 werden im NS-Dokumentationszentrum München sowie an öffentlichen Orten in der Stadt künstlerische Arbeiten präsentiert, die sich mit der Deutung von Vergangenheit und deren Anknüpfung an unsere Gegenwart beschäftigen.
In der Ausstellung zeige ich meinen Super-8-Film „This makes me want to predict the past“, der eine Gruppe von Jugendlichen am Münchner Olympia-Einkaufszentrum porträtiert. Dort wurden während eines rassistischen Anschlags im Juli 2016 neun Jugendliche mit Migrationsgeschichte ermordet, fünf weitere angeschossen und viele Menschen schwer verletzt. Der im Titel der Arbeit angelegte Widerspruch, die Vergangenheit vorhersagen zu wollen, ist ein Verweis auf die kontinuierliche und intersektionale Erfahrung von Rassismus.
Vielen Dank.
Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2019.