Vitjitua Ndjiharine & Behrang Samsami 12. September 2019 Logo_Initiative_print.png

Eine Ver­gan­gen­heit, die nach wie vor da ist

Vitji­tua Ndji­ha­rine über ihre künst­le­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem deut­schem Kolonialismus

Restitution geraubter Kunst, Forderungen nach Umbenennung belasteter Straßennamen, Umgang mit den Verbrechen an den Herero und Nama: Wohl noch nie in der Bundesrepublik wurden die Kolonialgeschichte des Deutschen Kaiserreiches und ihre Auswirkungen so intensiv diskutiert wie seit einigen Jahren. Gut hundert Jahre nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919, der den Verlust der deutschen Besitzungen in Übersee endgültig festlegte, befassen sich hierzulande Akteure aus Staat und Wissenschaft, Kunst und Medien und insbesondere von Nichtregierungsorganisationen mit den oben genannten Themen. Vitjitua Ndjiharine, in den USA als Tochter namibischer Eltern geboren und in Namibia aufgewachsen, setzt sich in ihrer Kunst mit der auch in ihrer Heimat lange Zeit nicht behandelten deutschen Kolonialherrschaft auseinander. Den 1904 bis 1908 in „Deutsch-Südwestafrika“ geführten Krieg überlebten Historikern zufolge nur etwa 15.000 der ursprünglich 60.000 bis 80.000 Herero und etwa die Hälfte der 20.000 Nama, nachdem sie gegen ihre Vertreibung und Unterdrückung aufgestanden waren und unter anderem Militärstationen, Bahnlinien und Handelsniederlassungen angegriffen hatten. Die Bundesregierung sprach im April 2016 selbst von einem Völkermord. Behrang Samsami spricht mit Vitjitua Ndjiharine über die Motivation ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit von Namibia, über ihre Mitarbeit beim Projekt „Visual History of the Colonial Genocide“ in Hamburg und über den Umgang mit Beutekunst nach der Rückgabe an die Herkunftsländer.

Behrang Samsami: Frau Ndjiharine, wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich mit der kolonialen Vergangenheit Namibias beschäftigen?
Vitjitua Ndjiharine: Weil ich neugierig auf meine Kultur war. Ich bin eine Herero und wusste, dass meine Heimat einst unter deutscher Herrschaft stand. Aber weil diese mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende ging und Namibia danach unter südafrikanische Verwaltung gestellt wurde, die bis 1990 dauerte, war der Kampf um Unabhängigkeit in erster Linie ein Kampf gegen Südafrika.

Dass auch die Deutschen in Namibia prägend waren, sieht und spürt man noch heute überall. Das Straßenbild ist beeinflusst von deutscher Architektur, Deutsch ist eine der elf Amtssprachen und es gibt auch eine namibisch-deutsche Community, bestehend aus den Nachfahren der einstigen Siedler und aus denen, die Jahrzehnte später selbst ins Land eingewandert sind.

Auch wenn ich dies alles sah und kannte, wusste ich nichts über den Völkermord zu Beginn des 20. Jahrhunderts, über die Konzentrationslager in Deutsch-Südwestafrika und das ganze Ausmaß an Gewalt. Dann las ich ein Buch, das mein Vater in seiner Bibliothek hatte: „Herero Heroes. A socio-political history of the Herero of Namibia, 1890-1923“ des niederländischen Historikers Jan-Bart Gewald aus dem Jahr 1999. Es ist eines der ersten Bücher, das sich diesem bis dato wenig behandelten Thema gewidmet hat.

Wie war Ihr Leseeindruck?
Nach der Lektüre war ich baff und habe mich gefragt, warum wir darüber nie gesprochen und nichts gelernt haben – weder in der Grundschule noch in der High School. Ich wurde neugierig und schaute mir insbesondere die modernen Trachten an, die Herero-Männer und -Frauen tragen. Die Trachten der Frauen sind ursprünglich von der Mode der viktorianischen Zeit inspiriert worden, von den großen Kleidern mit schmaler Taille. Die Trachten der Männer ähneln meines Erachtens den Uniformen deutscher Kolonialsoldaten. Andere haben den britischen Einfluss unterstrichen. Ich habe auch Ähnlichkeiten zum schottischen Kilt beobachtet.

An den Trachten erkennt man einen „Zusammenprall der Kulturen“. Die Herero haben sich die europäischen Trachten mit der Zeit angeeignet, sodass sie ein Teil der eigenen Identität geworden und in eigene Rituale eingebunden sind.
Ich begann, die Trachten als Dokument der Kolonialzeit wahrzunehmen, sie neben die koloniale und die moderne Mode zu stellen und zu beobachten, wie afrikanische Mode – oder in diesem Fall die der Herero – sich allmählich der westlichen Kultur angepasst hat, aber zugleich auch festzustellen, dass sie etwas spezifisch Eigenes bewahrt hat. Das möchte ich in meiner Kunst, in den Collagen und in der Nebeneinanderstellung, sichtbar machen.

Seit wann ist die deutsche Kolonialzeit Thema in Namibia?
Ich würde sagen, dass die Menschen erst seit etwa fünf Jahren die deutsche Vergangenheit in Namibia zur Sprache bringen. Es gibt die Erkenntnis, dass viele Communities nicht davon geheilt sind, was vor mehr als hundert Jahren passiert ist. Es handelt sich um ein generationenübergreifendes Trauma, das weitergegeben, aber nicht behandelt worden ist. Da ist nach wie vor eine Art Zerrissenheit in diesen Communities. Daher rührt meine visuelle Darstellung der Vergangenheit – und dass sie nach wie vor sehr präsent ist.

2018 waren Sie als „Artist in Residence“ in Hamburg und beteiligt an einem Projekt mit dem Titel „Visual History of the Colonial Genocide“. Dabei arbeiteten Sie, zwei weitere namibische Künstler und eine deutsche Historikerin an Fotos aus den Be-ständen des Museums am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK), das bis 2018 Museum für Völkerkunde hieß, die von deutschen Soldaten, Wissenschaftlern und Reisenden im Deutsch-Südwestafrika aufgenommen worden sind. Was waren Ihre Eindrücke und Erkenntnisse?
Die ersten künstlerischen Arbeiten, die ich zur kolonialen Vergangenheit Namibias geschaffen habe, waren Ergebnis meiner Neugierde, meiner Intuition und der wenigen Informationen, die ich damals hatte. In Hamburg hatte ich erstmals Zugang zu umfassendem Archivmaterial und konnte neue historische Erkenntnisse gewinnen. Ich habe gelernt, auch die alten Fotos als historische Dokumente einer Zeit zu betrachten, die wir nicht mehr als real ansehen, die aber nach wie vor da ist.

Wie war Ihr Austausch mit den anderen Projektteilnehmern?
Wir hatten intensive Diskussionen. Es ging um die Frage, wie wir mit den Fotos umgehen wollen und was ethisch vertretbar ist. Können wir sie etwa, überspitzt formuliert, an die Wand projizieren und sagen, dass wir jetzt kritisch über sie sprechen? Dass diese Fotos überhaupt existieren, stellt für mich bereits eine Art gewaltsames Vorgehen gegen die Aufgenommenen dar.

In unserem Projekt ging es auch um die Rückführung kolonialer Objekte. Ist es die Aufgabe europäischer Museen, sie zurückzugeben? Und wenn sie zurückgegeben worden sind, wie stellen wir als Afrikaner und in Afrika diese Objekte dar, ohne das gleiche gewaltsame Vorgehen und ohne den gleichen ethnografischen Blick auf sie neu zu schaffen? Wie wird die Position afrikanischer Museen in der Frage des Ausstellens sein? Es macht keinen Sinn, die Objekte so auszustellen, wie das die Europäer getan haben. Sollten bestimmte Objekte direkt an die Communities gehen, ohne überhaupt in Museen gebracht zu werden?

Ging es in Ihren Debatten auch um explizit politische Fragen?
Ja, es ging beispielsweise um Folgendes: Namibias Regierung hat Reparationsforderungen an die Bundesregierung gestellt. Zugleich gibt es Communities im Land, die sich, wie sie selbst geäußert haben, von der namibischen Regierung nicht in gleichem Maße vertreten fühlen wie andere. Das heißt: Wenn das Land tatsächlich Geld erhalten sollte, würden eben jene Communities nicht gleichermaßen davon profitieren, sondern das Geld würde in die Bürokratie fließen und für andere Ausgaben des Staates verwendet werden. Es gibt diese politischen und kulturellen Diskussionen in Namibia – Diskussionen um Erbe und Denkmäler.

Was hat Sie am Archivmaterial am meisten interessiert?
Nicht zuletzt die vorkoloniale Zeit in Namibia. Bevor ich nach Hamburg ging, habe ich einen Kurs über präkolumbische Kunst- und Sozialgeschichte in der Karibik besucht. Für die meisten beginnt die Geschichte der Karibik mit der Ankunft von Christoph Kolumbus, das heißt, mit der Epoche des Kolonialismus. Wir befassten uns daher explizit mit der Frage, was in der Karibik geschehen ist, bevor Kolumbus kam. Das kann man auf die Geschichte Namibias und insbesondere der Herero übertragen. Sie wird, wenn man die westliche Perspektive betrachtet, erst ab dem Moment der Besetzung durch die Deutschen erzählt, nicht wirklich vorher.  In den Dokumenten, die in Hamburg lagern, habe ich daher nach Material Ausschau gehalten, in dem Schwarze Menschen selbst berichten, und beispielsweise Bilder von Höhlenmalereien entdeckt. Sie erzählen, wie die Bantu Land von den San in ihren Besitz genommen haben.

Wichtig ist mir jedoch auch zu betonen, dass Dokumentierung und Archivierung nicht die einzigen Quellen für Historiker sind. Es gibt auch mündliche Geschichten und Überlieferungen. Sie sind eine Art, wie Schwarze Menschen Vergangenes bewahrt haben. (Lob-)Preisungen über bestimmte Personen oder Orte wie Omitandu und Omasanekero in der Tradition der Herero sind eine weitere Möglichkeit für Familien, nachzuvollziehen, wo sie herkommen und wer sie sind.
Mein Standpunkt ist, dass wir neu durchdenken können, was Geschichte für verschiedene Menschen ist, und nicht immer annehmen dürfen, dass es keine Geschichte gibt, bloß weil keine geschriebenen Dokumente existieren.

„Ovizire • Somgu: Von woher sprechen wir?“ hieß eine Ausstellung, die Ende 2018 bis Frühjahr 2019 in Hamburg mit Arbeiten auch von Ihnen zu sehen war. Sie präsentierte laut dem MARKK „Performances, multimediale Videoinstallationen, Fotocollagen und historische Fotografien, die sich mit der Komplexität der deutsch-namibischen Verflechtungsgeschichte beschäftigen“. Wie waren die Reaktionen?
Einige Besucher waren sehr emotional, weil sie bisher nichts über die deutsche Kolonialgeschichte in Namibia gewusst hatten. Wir erlebten viele Diskussionen, in denen sich die Themen der Ausstellung mit anderen verbanden. Es ging etwa um die Frage, was Landverlust und -besitz gerade in Zeiten des Klimawandels bedeuten. Diese Linie vom Kolonialismus zum Klimawandel, die entstand, fand ich interessant. In den anderen Gesprächen entdeckten wir Verbindungen zu bestimmten Bewegungen in Deutschland rund um Themen wie Antifaschismus, Antirassismus und Migration. Hier ging es auch um die steigende Migration aus Afrika nach Europa, die meiner Meinung nach letztlich im westlichen Kolonialismus wurzelt. Kurz: Alle Diskussionen, die aktuell in Europa stattfinden, sickerten durch in unsere Gespräche über die koloniale Vergangenheit.

Vielen Dank.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2019.

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