Esther Belgorodski 19. Juli 2019 Logo_Initiative_print.png

Zusam­men­ge­hö­rig­keit

Erfah­run­gen in einer viel­fäl­ti­gen Gesellschaft

Hier stehe ich, die jüdisch-ehemalig-sowjetische-nun-ukrainische Deutsche inmitten von Hannover. Ich bin gerade auf dem Weg zur Schule und halte meinen Davidstern in der Hand, noch werde ich ihn nicht umlegen, mein Papa soll nicht sehen, dass ich ihn trage. Er hat ihn mir geschenkt, aber für die Synagoge, für Feiertage oder neuerdings auch für unter den Pulli. Denn in der Schule ist es nicht immer selbstverständlich. Dort angekommen, laufe ich an unserer Ehrenplakette vorbei „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ – so ein Quatsch, ich kann meinen Davidstern hier nicht tragen, in meiner Heimat, in meiner vermeintlich so vertrauten Umgebung.

Um mich noch einmal abzusichern, schaue ich in den Flur rein. Eine kulturelle Vielfalt ohnegleichen: 100 verschiedene Haar- und Augenfarben und so viele verschiedene Symbole. Aus einigen Ecken machen sich Fremdsprachen bemerkbar. Ich wechsle die Sprache auch immer, wie soll ich meiner besten Freundin sonst mitteilen, dass mein Schwarm gerade neben mir steht und ich dahinschmelze. Ziemlich harmonisch dieser Schulflur. Überall hängen Bilder von Austauschprogrammen, Gedenkveranstaltungen und dazwischen ein Idiot: „Ihr Ausländer, ihr macht das einfach anders!“

„Wir Ausländer“ machen das also anders. Wer sind denn „wir Ausländer“? Meine Großeltern leben in Deutschland, meine Eltern haben jetzt schon den größeren Teil ihres Lebens hier verbracht und wenn wir, meine Schwester und ich, die hier zur Welt gekommen sind, von zu Hause sprechen, meinen wir zweifelsohne Hannover! Folglich kann ich mich mit dem Wort „Ausländer“ nicht identifizieren, allerding existiert ein anderes Wort, welches mich zum Denken anregt: „Kulturmigrantin“. Werte, die mir in meiner Erziehung ans Herz gelegt wurden, sind hoffentlich Werte, mit denen jeder groß geworden ist: Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Gleichheit. Warum also Migrantin?

Mein familiäres Brauchtum unterscheidet sich von dem schulischen: In der Grundschule besuchte ich den „klassischen“ Religionsunterricht. Dort wurde nicht einmal in katholisch oder evangelisch unterschieden. Als ich dann das Gymnasium besuchte, saß ich mit aller Welt zusammen im Werte- und Normen-Kurs und philosophierte neun Jahre lang über alles Mögliche.

Da ich, wie sicherlich die meisten, nicht am kontinuierlichen jüdischen Religionsunterricht teilgenommen habe, wage ich stichprobenartige Erklärungsversuche. Ich bin halachisch jüdisch, das bedeutet nichts anderes, als dass meine Mama jüdisch ist, denn das orthodoxe Judentum besagt, dass die Weitergabe durch die Mutter erfolgt. Diese Thematik ist heutzutage sehr umstritten. Ich möchte sie hier nicht weiter kommentieren.

Denn für mich wird jüdisch sein oft durch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl in verschiedensten Situationen deutlich. Ob beim wöchentlichen Backen von Challah, eines Hefezopfes, beim Kerzenzünden an Chanukka, dem Lichterfest auf Opernplätzen oder am Brandenburger Tor oder auch beim diskreten Shabbat-Kerzenzünden zwischen Mutter und Tochter.

Das Kerzenzünden am Shabbat ist eine meiner Lieblingstraditionen. Es ist gleichzeitig eine Mitzwa, davon gibt es 613. Übersetzt sind es Gebote und Verbote. Manche sind für Frauen, andere für Männer, somit ist es unmöglich, alle zu erfüllen. Was man jedoch schnell übersieht, ist der Bezug zur Allgemeinheit. Bei vielen Mitzwot geht es um die zwischenmenschliche Beziehung. Weder darf man seinen Nächsten hassen, noch seinen Ruf schädigen. Im Gegenteil, man soll seine Eltern ehren, seinen Mitmenschen helfen und im übertragenen Sinne mit offenen Augen durchs Leben laufen.

Eine andere Situation macht dieses Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Allgemeinheit noch deutlicher: Einmal war ich in Yad Vashem, der größten internationalen Holocaustgedenkstätte in Jerusalem. Ich bin das erste Mal vor Ort und absolut überfordert. Weder habe ich meine Tränen unter Kontrolle, noch will ich mit meiner deutschen Delegationsgruppe sprechen. Der Flur, durch den ich laufe, ist mit einzelnen Exponaten bestückt. Es sind persönliche Gegenstände, die aus Konzentrationslagern gerettet werden konnten: ein Löffel, ein Gebetsbuch und ein paar Schuhe. Etwa eine Armlänge entfernt von mir läuft ein junger Mann, man hört uns abwechselnd schluchzen. Wir sprechen nicht und schauen uns auch nicht an. Wir gehen noch ein paar Meter weiter und plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, fallen wir einander in die Arme. Er nimmt meinen Kopf in die Hand und sagt: „Ich weiß, es ist schrecklich, aber wenn sie nie aufgehört haben zu glauben, dürfen wir nicht einmal daran denken.“ Später erfuhr ich, dass der junge Mann ein kanadischer Student ist, der auch zum ersten Mal vor Ort ist. Diese Situation steht für mich für Empathie und Emotionalität zwischen Menschen, nicht für das Leid einer Gruppe. Wir mussten einander nicht erklären. Wir waren einfach füreinander da und haben uns nicht wegignoriert. Rasch entwickelte sich eine Verbindung, ein Dialog. Solche Situationen sollte es mehr geben!

Wir leben in einer Zeit voller Vielfalt, die von Tag zu Tag nur noch wächst. Umso deprimierender ist es zu sehen, dass Menschen ihren kulturellen oder religiösen Prägungen nicht frei nachgehen können. Ich möchte nicht immer zuerst Polizisten sehen, wenn ich in die Richtung jüdischer Institutionen gehe. Jeder Bürger sollte in der Lage sein, in einem demokratischen Rahmen unabhängig von seinen Wurzeln freier religiöser oder kultureller Entfaltung nachgehen zu können.

Vielfältigkeit ist um uns herum, wir müssen sie nur aufmerksam wahrnehmen und zu mehr Offenheit anregen. Wir müssen bereit sein, die Fragen des Gegenübers zu beantworten und neue zu stellen, somit umgehen wir viele Missverständnisse und bekommen ein Gefühl für Neues. Wir müssen mehr Platz für Dialoge schaffen, erst im kleinen und dann im großen Rahmen. Das kann nicht nur der Traum einer jungen Frau bleiben, es muss gesamtgesellschaftlich verwirklicht werden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2019.

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