Markus Hilgert 29. Mai 2018 Logo_Initiative_print.png

Migra­tion – Inte­gra­tion, eine neue alte Aufgabe

Rede von Prof. Dr. Mar­kus Hil­gert auf der Jah­res­ta­gung der Initia­tive kul­tu­relle Inte­gra­tion am 29.05.2018

1. Kulturelle Vielfalt heute und damals
Vielleicht geht es Ihnen so wie mir: Von den 15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt gefällt mir eine ganz besonders gut. Meine Lieblingsthese lautet: „Kulturelle Vielfalt ist eine Stärke.

Es gibt zwei Gründe, warum mir dieses Bekenntnis so sehr am Herzen liegt. Zum einen will und kann ich mir nicht vorstellen, in einer Gesellschaft zu leben, in der kulturelle Vielfalt mit dem darin implizierten Respekt vor der kulturellen Identität der oder des Anderen nicht zu den Grundwerten des Zusammenlebens gehört. Zum anderen denke ich als Altertumswissenschaftler beim Begriff „kulturelle Vielfalt“ unweigerlich auch an mein eigenes Fachgebiet, die Altorientalistik. Ihre Vertreterinnen und Vertreter erforschen die Sprachen und Kulturen des antiken Zweistromlandes, das im Wesentlichen mit dem Gebiet der heutigen Staaten Türkei, Syrien und Irak identisch ist. Über mehr als 4.000 Jahre hinweg waren die Gesellschaften des antiken Mesopotamien Orte der kulturellen Vielfalt, des interkulturellen Austauschs, der Zuwanderung und des Sprachreichtums. Es ist sicher kein Zufall, dass die Bibel die Stadt Babylon zum Schauplatz der gottgewollten Sprachverwirrung macht. Schon seit dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. war die Metropole ein kultureller Schmelztiegel mit überregionaler Bedeutung, ein begehrtes Reiseziel für Händler und Diplomaten, ein Zentrum der Wissenschaft und der Künste.

Kulturelle Vielfalt war zu allen Zeiten ein charakteristisches Kennzeichen des antiken Babylon. Dies bedeutet, dass auch die Gesellschaften des Alten Orients um die Herausforderungen wussten, die kulturelle Vielfalt, die daraus erwachsende Aufgabe der kulturellen Integration sowie der Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen mit sich bringen können. Vor diesem Hintergrund will ich versuchen, mich dem Thema „Migration – Integration“ aus dem Blickwinkel der historischen Kulturwissenschaften anzunähern. Mein Ziel ist, anhand eines konkreten Fallbeispiels aus dem antiken Babylon bestimmte Aspekte kultureller Integrationsprozesse herauszuarbeiten und sie als Thesen in die öffentliche Debatte um Methoden und Formate der kulturellen Integration in unserem Land einzubringen. Dabei treibt mich auch die wissenschaftspolitische Fragestellung an, welchen spezifischen Beitrag historische Kulturwissenschaften zur gesamtgesellschaftlichen Herausforderung der kulturellen Integration leisten können.

 

2. Kulturelle Integration aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften
Die vier Thesen, die ich hier zur Diskussion stelle und im Folgenden zu begründen suche sind:

  1. Kulturelle Integration ist ein Generationenprojekt.
  2. Innerhalb einer Gesellschaft verlaufen kulturelle Integrationsprozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
  3. Kulturelle Integration entsteht aus einem ergebnisoffenen Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen.
  4. Bedeutende kulturelle Leistungen einer Gesellschaft sind in der Regel das Ergebnis transkulturellen Austauschs.

Wie komme ich zu diesen Behauptungen? Lassen Sie mich mit dem zuletzt genannten Punkt beginnen, der Bedeutung des transkulturellen Austauschs für die kulturelle Identität einer Gesellschaft. Seit Wolfgang Welsch vor mehr als einem Vierteljahrhundert das Konzept der ‚Transkulturalität‘ in die Kulturphilosophie eingeführt hat, ist dieses Konzept zu einem zentralen Bestandteil der poststrukturalistischen und postkolonialen Methodendebatte in den Kultur- und Literaturwissenschaften avanciert. Welschs Betrachtung „heutiger Kulturen“ führt ihn zu folgendem prägnanten Resümee:

„Die heutigen Kulturen entsprechen nicht mehr den alten Vorstellungen geschlossener und einheitlicher Nationalkulturen. Sie sind durch eine Vielfalt möglicher Identitäten gekennzeichnet und haben grenzüberschreitende Konturen. … Angesichts solcher Befunde ist die Verabschiedung des traditionellen Kulturkonzepts mit seinem unheilvollen Doppel von innerem Einheitszwang und äußerer Abschottung auch unter normativen Gesichtspunkten geboten. Es käme künftig darauf an, die Kulturen jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur zu denken“ (Welsch 1995).

Dieses Denken „jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur“ wird für Welsch durch das Konzept der Transkulturalität ermöglicht:

„Kulturen sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Sie haben eine neuartige Form angenommen, die durch die klassischen Kulturgrenzen wie selbstverständlich hindurchgeht. Das Konzept der Transkulturalität benennt diese veränderte Verfassung der Kulturen und versucht daraus die notwendigen konzeptionellen und normativen Konsequenzen zu ziehen“ (Welsch 1995).

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Transkulturalität hat in den historischen Kulturwissenschaften einen entscheidenden Perspektivwechsel bewirkt. Als radikaler Gegenentwurf zu einem ethnisch und nationalstaatlich geprägten Kulturverständnis lenkt sie die Aufmerksamkeit der kulturwissenschaftlichen Forschung auf die komplexen, vielschichtigen Prozesse des Austauschs, der Aneignung, der individuellen und kollektiven Sinnzuschreibung, der Anpassung sowie der Einbettung in variierende soziale Praktiken, die jedem ‚Kulturzeugnis‘ – also Artefakten und Diskursen – zugrunde liegen. Von einzelnen Akteuren oder Gruppen wahrgenommene oder behauptete ‚kulturelle Identitäten‘ erscheinen danach als Produkte eines nie abgeschlossenen, sich stetig verändernden Umgangs mit und diskursiven Aushandelns von Personen, Dingen und Konzepten, die zunächst als ‚fremd‘ klassifiziert werden. Eine eindeutige kulturelle, ethnisch, territorial oder nationalstaatlich begründete Zuordnung von Akteuren, Dingen und Diskursen erweist sich somit aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften weder als praktikabel noch als methodisch sinnvoll.

 

3. Ein Fallbeispiel: Hammurapi von Babylon
Welche Konsequenzen diese Sichtweise auf Kultur haben kann und warum wir gut beraten sind, wenn wir mit Blick auf die gesellschaftliche Grundaufgabe der kulturellen Integration von der transkulturellen Verfasstheit des Kulturellen ausgehen, will ich Ihnen anhand eines konkreten Beispiels demonstrieren. Es handelt sich um eines der bekanntesten Kulturzeugnisse aus dem antiken Zweistromland. Ich spreche vom sogenannten ‚Gesetzeskodex‘ des altbabylonischen Herrschers Hammurapi von Babylon, der im 18. Jh. v. Chr. regierte. Die Stele aus schwarzem, glatt poliertem Diorit, die 2,25 m hoch und umlaufend mit Keilschrift beschrieben ist, gilt weithin als Beispiel par excellence für die ‚babylonische Kultur‘ dieser Epoche. Doch fragt man im Detail nach der physischen Beschaffenheit des Objekts, den Charakteristika der Keilinschrift sowie nach Format und Sprachstil des auf der Stele eingemeißelten Textes, erweist sich eine eindeutige ‚kulturelle Identifizierung‘ des Objektes als unmöglich. Hinzu kommt, dass der Auftraggeber der Inschrift, Hammurapi von Babylon, ein Herrscher mit ‚Migrationshintergrund‘ und einem ‚fremdsprachigen‘ Namen war. Doch dazu später mehr. Lassen Sie uns zunächst in aller Kürze das Kunstwerk selbst betrachten, das heute im Louvre in Paris zu sehen ist.

Der schwarze, harte Dioritstein, aus dem die Stele besteht, war ein Import aus dem fernen ‚Ausland‘ in das vergleichsweise steinarme Mesopotamien, den heutigen Irak. Höchstwahrscheinlich ließ Hammurapi den Diorit aus dem antiken Land Magan, dem heutigen Oman, einführen. Er knüpfte damit an eine alte Tradition an, die besonders gut für städtische Zentren des sumerischen Südmesopotamien in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends v. Chr. nachzuweisen ist. Gudea von Lagasch, der im 22. Jahrhundert v. Chr. regiert, lässt beschriftete Statuen seiner Person in just diesem Stein ausführen und hebt in vielen seiner Gedenkinschriften stets den Import des kostbaren Materials aus Magan hervor. Implizit demonstriert Gudea damit auch seine politische Kontrolle über den Fernhandel in der Region des arabisch-persischen Golfs, ein weiterer kultur- und traditionsstiftender Diskurs, an den Hammurapi durch die Wahl des Schriftträgermaterials anknüpft.

Auch die mit Keilschrift beschriebene Stein-Stele ist keine Erfindung Hammurapis, sondern vielmehr seine Interpretation einer kulturellen Form, die bereits Jahrhunderte vor ihm in verschiedenen Gesellschaften des Zweistromlandes im Bereich der Selbstdarstellung des Herrschers eingesetzt wird. Das am Kopf der Stele eingemeißelte Halbrelief, das Hammurapi vor dem thronenden Sonnengott Schamasch, dem Gott der Gerechtigkeit, zeigt, ist schließlich die Adaption eines Bildtopos, der seit dem 22. Jahrhundert v. Chr. vor Allem in der religiös motivierten Kleinkunst des südlichen Mesopotamien verbreitet war.

Noch komplexer ist der Befund, den die Analyse der Keilinschrift liefert. Zunächst könnte allein die Verwendung der Keilschrift schon als ‚transkulturelle Meisterleistung‘ gelten. Denn das Zeichensystem erscheint zum ersten Mal im späten vierten Jahrtausend v. Chr. in der westlichen Golfregion zur Darstellung der linguistisch isolierten Ergativsprache Sumerisch. Hammurapi indes nutzt dieses Zeichensystem, um einen Text in akkadischer Sprache aufzuschreiben. Akkadisch ist jedoch die älteste, inschriftlich bezeugte semitische Sprache und, sprachtypologisch betrachtet, vom Sumerischen ebenso weit entfernt wie das Deutsche von einer Bantu-Sprache. Die von Hammurapi verwendete, an den zeitgenössischen akkadischen Sprachgebrach stark angepasste Version der Keilschrift ist in ihrem Erscheinungsbild jedoch alles andere als zeitgenössisch. Denn die Zeichenformen lassen das Bemühen erkennen, sich an die kursive Keilschrift der auf Tontafeln geschriebenen sumerischen Rechts- und Verwaltungsurkunden des ausgehenden dritten Jahrtausends anzunähern. Eine markante Ähnlichkeit besteht außerdem zum Duktus der Statueninschriften, die der bereits erwähnte Gudea von Lagasch im 22. Jahrhundert v. Chr. anfertigen ließ.

Besonders auffällig ist schließlich die Anordnung der Keilschriftzeichen auf dem Schriftträger. Aus der Sicht eines Betrachters, der vor der Stele steht, erscheinen sie nicht in der zeitgenössisch sonst üblichen Schriftrichtung von links nach rechts, sondern im Uhrzeigersinn um 90 Grad gedreht, in vertikal und horizontal begrenzten Fächern, die von oben nach unten sowie von rechts nach links zu lesen sind. Diese Eigentümlichkeit in der Anordnung der Keilschriftzeichen, die bereits in akkadischen und sumerischen Herrscherinschriften des dritten Jahrtausends v. Chr. nachzuweisen ist, könnte den Versuch darstellen, die Zeichenausrichtung und -anordnung der ältesten Keilschrifttexte überhaupt zu imitieren. Diese wurden im späten vierten und frühen dritten Jahrtausend v. Chr. im Süden des Zweistromlandes mit Griffeln auf Tontafeln geschrieben wurden, um administrative Vorgänge und Wortlisten schriftlich zu fixieren.

Zusammenfassend könnte man also sagen, dass die materielle Gestalt der Diorit-Stele Hammurapis von Babylon aus der Aneignung und Anpassung mehrerer, ursprünglich voneinander unabhängiger kultureller Formen resultiert, die chronologisch, topographisch und sozial-kulturell verschiedenen Kontexten entstammten. In ein und demselben Objekt wurden diese kulturellen Formen miteinander verschmolzen, amalgamiert, um den zeitgenössischen Betrachtern sowohl die Authentizität und Autorität des Textes als auch insbesondere die ‚kulturelle Kompetenz‘ seines königlichen Auftraggebers zu vermitteln.

Analysiert man die etwa 4.000 Zeilen umfassende Inschrift mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Methoden, gelangt man zu einem vergleichbaren Befund. In der Regel als ‚Gesetzeskodex‘ klassifiziert, ist der Text aus meiner Sicht anders zu deuten. Bei der berühmten Inschrift des Hammurapi von Babylon handelt es sich um den Rechenschaftsbericht und das politische Testament eines klugen Politikers, der sich eine seit mehreren Jahrhunderten von altorientalischen Herrschern verwendete kulturelle Form angeeignet, sie mit anderen kulturellen Formzitaten kombiniert, in einen neuen Zusammenhang gestellt und damit eine eigene, identitätsstiftende kulturelle Form geschaffen hat.

 

4. Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit vor 4.000 Jahren
Was hat alles das mit kultureller Integration zu tun? Hammurapi von Babylon, der bis heute als einer der bedeutendsten Herrscher des Alten Orients gilt, war ein Herrscher mit Migrationshintergrund. Seine familiären Wurzeln ebenso wie vermutlich bestimmte Bereiche seiner Sozialisierung lagen außerhalb der südmesopotamischen Mehrheitsgesellschaft. Denn Hammurapi entstammte einer Bevölkerungsgruppe, die als Minderheit seit mehreren Generationen in Koexistenz mit dieser sesshaften Mehrheitsgesellschaft lebte. Diese Bevölkerungsgruppe bestand ursprünglich aus Kleinviehnomaden, die in Stämmen organisiert waren. Seit der Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. drangen diese Stämme vermehrt aus der syrischen Wüstensteppe in das wohlhabende mesopotamische Kernland vor, meist auf der Suche nach Weideland und Wasser.

Von der Mehrheitsgesellschaft schon früh mit der abwertenden Sammelbezeichnung ‚Amurriter‘ belegt, waren diese Menschen, die eine eigene Sprache, eigene Erzählungen sowie eigene kulturelle Formen mitbrachten, noch am Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien durchaus keine willkommenen Gäste. Die dezidiert fremdenfeindliche Rhetorik, die von den Eliten der Aufnahmegesellschaft gegen die Amurriter eingesetzt wurde, war gekennzeichnet von fehlender begrifflicher und kategorialer Differenzierung sowie von abwertender Stereotypisierung. Sie gipfelt in folgender Beschreibung mit stark rassistischem Unterton, die einer mythologischen Komposition in sumerischer Sprache aus dem frühen zweiten Jahrtausend v. Chr. entstammt:

„Nimm Dich in Acht, ihre Hände sind zerstörend, (ihr) Aussehen das von Affen. Sie essen (Dinge), die von Gott Nanna tabuisiert sind, sie haben keine Ehrfurcht. … Ein Abscheu der Tempel der Götter sind sie. Ihr Verstand ist verwirrt … Es sind Leute, die Ledersäcke (anstelle von Kleidern) tragen … in Zelten leben sie … Die noch nie Gebete gesprochen haben, in der Hochsteppe wohnend, die die Orte der Götter nicht kennen. Sie sind Leute, die Trüffeln an den Hügeln gegraben haben und nicht wissen, das Knie zu beugen. Ungekochtes Fleisch essen sie. Die Zeit ihres Lebens kein Haus haben (und), wenn sie gestorben sind, zu keinem Bestattungsplatz gebracht werden …“ (Klein 1997 Zeilen 127–138; dazu Streck 2000, 73–75).

Die stereotype, nahezu durchweg negative Darstellung der Amurriter in sumerischen Texten des frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. geht offenbar auf eine noch ältere Tradition zurück, die sich erstmals in Keilschrifttexten des ausgehenden dritten Jahrtausends v. Chr. niederschlägt. In einer Inschrift des vierten Herrschers der Dritten Dynastie von Ur (2112–2004 v. Chr.), Šu-Suen, lesen wir:

„… Amurriter, Leute, die zerstören, mit dem Instinkt eines Hundes, Wölfen gleich …“ (RIME 3/2, 299, 25–27).

Šu-Suen fühlte sich offenbar massiv von den Amurritern bedroht, denn sowohl sein viertes als auch sein fünftes Regierungsjahr sind nach dem Bau bzw. Ausbau einer Verteidigungsanlage, der „Amurriter-Mauer“ (sumerisch: bad martu), benannt, die als Bollwerk gegen die zunehmend nach Mesopotamien einwandernden Kleinviehnomaden dienen sollte.
Damit zeichnen sich die Leitmotive des ‚Amurriter-Diskurses‘ in Keilschrifttexten des späten dritten und frühen zweiten Jahrtausends v. Chr. klar ab:

  1. Bedrohung und Konfrontation;
  2. gänzlich andersartige Lebensformen;
  3. Ignoranz gegenüber den kultur- und identitätsstiftenden sozialen Praktiken der Mehrheitsgesellschaft;
  4. äußere Erscheinung sowie bestimmte Denk- und Verhaltensmuster.

Trotz dieser hartnäckigen Vorurteile auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft gelang es Hammurapi, der bezeichnenderweise keinen babylonischen, sondern einen amurritischen Namen trug, einen ausgedehnten, vergleichsweise stabilen Herrschaftsbereich sowie die machtpolitische Grundlage für die Herrscher der „Ersten Dynastie von Babylon“ zu schaffen. Dass er als Angehöriger einer nach wie vor geschmähten und diskriminierten Minderheit politisch so erfolgreich war und sich zumindest äußerlich perfekt in die herrschaftsideologischen und theologischen Traditionen der Mehrheitsgesellschaft einzufügen scheint, ist wohl nicht zuletzt seinem geradezu virtuosen Umgang mit verschiedenen kulturellen Formen dieser Mehrheitsgesellschaft geschuldet. Ebenso wenig wie Hammurapi selbst waren diese kulturellen Formen ‚typisch babylonisch‘. Vielmehr wurden sie aus ganz unterschiedlichen Komplexen sozial-kultureller Praxis isoliert und in einer Re-Interpretation und Re-Kontextualisierung zu etwas Neuem amalgamiert – ein Paradebeispiel transkultureller Grenzüberschreitung und transkultureller Aushandlung.

Damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden am historischen Fallbeispiel des Hammurapi von Babylon die vier Aspekte kultureller Integration sichtbar, die ich eingangs als Thesen formuliert hatte:

  1. Kulturelle Integration ist ein Generationenprojekt: sie bedarf der Geduld, der Ausdauer und bedingungsloser Zuversicht.
  2. Innerhalb einer Gesellschaft verlaufen kulturelle Integrationsprozesse mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Rückschläge auf einzelnen Etappen des Weges bedeuten nicht zwangsläufig, dass das Ziel nicht erreicht werden kann.
  3. Kulturelle Integration entsteht aus einem ergebnisoffenen Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen: Seinen Teilnehmern verlangt dieser Wettstreit gleichberechtigter kultureller Ausdrucksformen den Mut zur Begegnung, die Geschicklichkeit der Aushandlung und das Vertrauen in die eigene kulturelle Identität ab.
  4. Bedeutende kulturelle Leistungen einer Gesellschaft sind in der Regel das Ergebnis transkulturellen Austauschs: Als kreativer ‚Remix‘ verschiedener, bereits bestehender kultureller Formen sind sie immer ein Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts.

 

5. Kultur ist nichts Statisches
Es gibt allerdings auch noch eine tiefergehende Lehre, die wir aus unserem Zeit- und Raumsprung in das antike Mesopotamien ziehen können. Aus Sicht der historischen Kulturwissenschaften ist Kultur nichts Statisches oder Begrenztes. Kultur ereignet sich stets aufs Neue. Kultur ist ein nie abgeschlossener Prozess der Aushandlung, den einzelne Akteure in der Begegnung und im Umgang mit anderen Akteuren, Objekten und Diskursen aktiv gestalten. Im Wettbewerb der Narrative und kulturellen Formen kann zunächst ‚als fremd‘ Wahrgenommenes in einen neuen Handlungs- und Diskurszusammenhang gestellt, dadurch erfasst und schließlich auch ‚als Eigenes‘ begriffen werden. Was einst als Summe klar voneinander zu scheidender Kulturen betrachtet wurde, erscheint danach als entgrenztes, dynamisches, sich kontinuierlich veränderndes Geflecht von zahllosen Praktiken der Rezeption, Integration, Segregation, Assimilation, Adaption oder Amalgamierung, die je nach Ort, Zeit und Akteuren spezifisch sind.

Was bedeutet dies für die Herausforderung kultureller Integration in Deutschland sowie in Europa? Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass all das, was wir gemeinhin als charakteristisch und unterscheidend für unsere kulturelle Identität halten, nicht mehr, aber auch nicht weniger ist als das Ergebnis nie abgeschlossener Prozesse der Rezeption, Assimilation oder Adaption, die je nach Ort, Zeit und Akteuren unterschiedlich verlaufen. Deutschland und Europa sind an jedem Ort und zu jeder Zeit anders, ein weitverzweigtes Geflecht von dynamischen Praktiken der Aushandlung. Dieses Geflecht ist zwangsläufig umso widerstandsfähiger und belastbarer, je häufiger, vielfältiger, flexibler und adaptiver diese Prozesse sozial-kultureller Aushandlung sind. Der Blick der historischen Kulturwissenschaften in die Menschheitsgeschichte – insbesondere in die mehr als viertausendjährige Geschichte des Alten Orients – bestätigt, dass langfristig gerade diejenigen Gesellschaften besonders erfolgreich waren, die diese stetige kulturelle Aushandlungs- und Integrationsleistung über lange Zeiträume hinweg erbracht haben. Die kulturwissenschaftliche Forschung zeigt außerdem, dass Gesellschaften und ihre herausragenden kulturellen Leistungen stets auch auf transkulturellem Erbe fußen. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass in Zukunft unverwechselbar ‚Deutsches‘ und unverwechselbar ‚Europäisches‘ nur dann entstehen und bestehen kann, wenn Deutschland und Europa weiterhin Orte transkulturellen Austauschs bleiben und die Bereitschaft aufbringen, die transkulturellen Angebote globaler Vernetzungsprozesse anzunehmen und produktiv für sich zu nutzen.

Voraussetzung dafür ist, dass wir zunächst den mutigen und offenen Umgang mit der Herausforderung kultureller Vielfalt einüben. Denn kulturelle Vielfalt ist nicht nur eine Stärke. Vielmehr bedarf sie auch der Stärke, wenn eine Gesellschaft durch die Fliehkräfte wiederstreitender Narrative nicht aus den Angeln gehoben werden soll. Stark sind wir aber dann, wenn wir im Wissen um das eigene materielle und immaterielle Kulturerbe kompromisslos für sozial-kulturelle Grundwerte einstehen, wenn wir Nicht-Verhandelbares klar benennen und wenn wir selbst zahlreiche kulturelle Identifikationsangebote machen, die im globalen Wettbewerb der kulturellen Ausdrucksformen attraktiv und konkurrenzfähig sind.

Notwendig ist dazu vor allem ein breit angelegter Kulturdialog aller gesellschaftlichen Gruppen. Nur so können diejenigen kulturellen Formen identifiziert werden, die langfristig unverzichtbar sind für die kulturelle Identität und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Dieser gesamtgesellschaftliche Kulturdialog wird nicht nur den interkulturellen Austausch und die kulturelle Integration fördern. Er wird auch der kulturellen Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft dienen und sie damit zukunftsfähig machen.

 


 

Zitierte Literatur
Klein, J.
1997 The God Martu in Sumerian Literature, in: I. L. Finkel and M. J. Geller, Sumerian Gods and Their Representations. Cuneiform Monographs 7, 99–116.

Streck, M. P.
2000 Das amurritische Onomastikon der altbabylonischen Zeit. Band 1. Die Amurriter. Die onomastische Forschung. Orthographie und Phonologie. Nominalmorphologie. Alter Orient und Altes Testament 271/1.

Welsch, W.
1995 Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen, in: Institut für Auslandsbeziehungen (ed.), Migration und Kultureller Wandel, Schwerpunktthema der Zeitschrift für Kulturaustausch, 45/1, 39–44.

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