Josef Schuster & Hans Jessen 31. Juli 2017 Logo_Initiative_print.png

Uns steht ein Mara­thon bevor

Aus jüdi­schen Erfah­run­gen lernen

Flüchtlingswellen, Integration, Antisemitismus, Wertevermittlung u.v.m. sind Themen des Gespräches zwischen Josef Schuster und Hans Jessen.

Hans Jessen: Herr Schuster, Sie sagen, die Jüdische Gemeinschaft habe mit Inte­gration viel Erfahrung, weil nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion über 200.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge in Deutschland inte­griert wurden. Lässt sich das mit den Integrationsaufgaben vergleichen, vor denen Deutschland und auch die Jüdische Community jetzt stehen?

Josef Schuster: Ja und nein. Sicherlich war es eine Mammutaufgabe. Die Zahl von 200.000 schließt die nichtjüdischen Familienangehörigen ein, die auch in die Gesellschaft integriert werden mussten. Die jüdischen Gemeinden Deutschlands hatten zu Beginn der 1990er Jahre 30.000 Mitglieder. Sie standen vor der Aufgabe, 200.000 Menschen zu integrieren, die zunächst der deutschen Sprache fern waren und auch von ihrer Religion sehr wenig wussten. Man musste sie sowohl in die jüdische Gemeinschaft und Religion, als auch in die deutsche Gesellschaft integrieren. In Teilen war das mit der heutigen Aufgabe vergleichbar. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Die jüdischen Zuwanderer wussten sehr wenig von ihrer Religion, was in der Sowjetunion kein Wunder gewesen ist.

Man musste sie an die Hand nehmen, um Wissen über diese Religion zu vermitteln und sie wieder in diese hineinzubringen. Jetzt haben wir es mit der Situation zu tun, dass Menschen nach Deutschland kommen, die zum Teil stark vom Islam geprägt sind. Sie kommen mit einer Religion, die es in Deutschland zwar gibt, die aber in der Gesellschaft nicht so weit verbreitet ist. Man muss sie in eine Gesellschaft integrieren, die zum Teil andere Wertevorstellungen hat, als sie es aus ihren Heimatländern gewohnt sind.

Nun kommt für die Jüdische Community hinzu, dass in vielen islamisch geprägten Staaten Israel und das Judentum zum traditionellen Feindbild gehören – Sie sprechen von der Gefahr eines importierten Antisemitismus?

Ja, die Sorge habe ich. Das nehme ich dem Einzelnen in keiner Weise übel. Wenn über Jahrzehnte indoktriniert wird, dass Juden das Feindbild, das Böse per se sind, dass Israel von der Landkarte völlig entfernt werden muss, dann werden sie diese Einstellung nicht einfach an der Grenze ablegen. Also geht es darum, die in Deutschland geltenden Wertevorstellungen zu vermitteln, gerade auch, was das Existenzrecht Israels, die Schoah, und den Antisemitismus angeht.

Sie haben gesagt, dass man Menschen, die diese religiös-kulturell-politische Prägung haben, auch emotional erreichen müsse. Es würde nicht ausreichen, ihnen die Werte und Normen vorzusetzen. Und Sie meinten, das sei schwer. Worin liegt die Schwierigkeit, Flüchtlinge aus arabisch geprägten Ländern, aus nordafrikanischen Ländern emotional zu erreichen – gerade für Sie als Juden?

Betrachten Sie einfach das Zahlenverhältnis. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland haben heute etwa 100.000 Mitglieder. Allein im Jahr 2015 sind rund eine Million Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, davon ein Großteil Muslime. Ideal, um Vorurteile abzubauen, ist gegenseitiges Kennenlernen. Wenn ein Muslim und ein Jude miteinander ins Gespräch kommen, gelingt es am ehesten, Vorurteile abzubauen. Wenn muslimische Menschen, gerade Jugendliche, nach einer entsprechenden Vorbereitung eine KZ-Gedenkstätte besucht haben, kann man sie mit diesem Thema vertraut machen und Empathie erzeugen. Mit einer einfachen Textseite im Schulbuch: „Was sind Juden und wo haben wir gemeinsame Werte?“ gelingt so etwas deutlich schwerer, wenn überhaupt.

Vor zwei Jahren haben Sie mit einem Interview ziemlich viel Aufsehen erregt. Sie sagten, es gebe deutsche Großstadtbezirke, wo man lieber nicht mit der Kippa auf dem Kopf herumlaufen sollte. Ist nach Ihrer Wahrnehmung das Risiko von Parallelgesellschaften mit der großen Zahl muslimisch geprägter Zuwanderer in den letzten zwei Jahren gewachsen?

Eine Veränderung dieser Situation vermag ich nicht zu erkennen. Mein Satz gilt dennoch unverändert weiter. Wenn ich als Jude Sorge haben muss, in einzelne, insbesondere muslimisch geprägte Stadtviertel deutscher Großstädte zu gehen, dann ändert es wenig, ob jetzt hier mehr oder weniger Antisemitismus herrscht. Wenn ich zum dritten Mal angepöbelt wurde, dann werde ich es wahrscheinlich sein lassen und nicht immer wieder den gleichen Weg durch das Stadtviertel gehen, um zu gucken, ob ich dann nur einmal oder viermal dergleichen erlebe.

Sie sprechen von importiertem Antisemitismus. Gibt es in Deutschland aber nicht auch in den letzten Jahren das Wiederaufleben eines Antisemitismus – gerade bei denen, die sich als besonders deutsch fühlen und sich gegen muslimische Zuwanderer wenden? Sind das politisch-kulturelle Gegner, die im Antisemitismus plötzlich Verbündete werden?

Unzweifelhaft ist der rechtsextremistische und rechtspopulistische Antisemitismus in Deutschland weiterhin die größere Gefährdung als der muslimisch geprägte Antisemitismus. Sicherlich auch ein Grund, warum von rechtspopulistischen Parteien wie der AfD der Versuch gemacht wurde, gezielt jüdische Gemeinden und Menschen zu umgarnen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Auf AfD-Listen kandidieren auch Juden.

Dafür habe ich wenig Verständnis. Aber Jude zu sein, bedeutet in der politischen Einstellung gar nichts. Sie haben ein sehr breites Spektrum in ihrer politischen Einstellung.  Ich bin jedoch davon überzeugt, dass bei rechtspopulistischen Parteien, die zwar im Moment den Islam im Fokus haben, jede andere Minderheit – eben auch Juden – genauso in den Fokus kommen würde, wenn es opportun ist. Da soll man nicht kurzsichtig sein.

Wie sieht kulturelle Arbeit im Verbund der Religionsgemeinschaften aus, wenn sie nach Integration strebt, auch mit dem Ziel gegenseitiger religiöser Akzeptanz und Gleichberechtigung? Sie haben im vergangenen Jahr gemeinsam mit den christlichen Kirchen und vier muslimischen Verbänden das Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ wiederbelebt. Hat sich das Projekt bewährt oder war es nur eine Ankündigung?

Nein, das war nicht nur eine Ankündigung, sondern es ist ein Projekt, das in die Tat umgesetzt wurde und sich als sehr positiv erwiesen hat. Ich hatte gesagt, wenn man sich gegenseitig kennenlernt, dann baut das Vorurteile ab. Genau diesen Weg gehen wir bei „Weißt du, wer ich bin?“. Es werden dabei interreligiöse Projekte der Flüchtlingshilfe finanziell gefördert.

Anfang dieses Jahres sagten Sie in einer Rede vor dem Niedersächsischen Landtag in Hannover, Sie sähen gerade bei jüngeren Menschen Defizite bei der Vermittlung von Werten, die uns nach innen stärken. Was haben Sie damit gemeint?

Sowohl in Teilen der deutschen Gesellschaft als auch in Kreisen der Zuwanderer findet unser deutsches Wertesystem nicht mehr die Beachtung und Achtung, wie es eigentlich der Fall sein sollte. Die Würde des Menschen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit – das sind Werte, die in Teilen der Gesellschaft offenbar nicht mehr den Stellenwert haben, den sie haben sollten.

Wir haben schon darüber gesprochen, was muslimische Zuwanderer an Wissen, vielleicht auch an Respekt, Akzeptanz gegenüber der jüdischen Religion und Kultur lernen müssten. Gibt es umgekehrt auch eine Lern- und Integrationsnotwendigkeit, die aus Ihrer Sicht Menschen jüdischen Glaubens gegenüber muslimischen Zuwanderern entwickeln müssen? Oder überhaupt gegenüber Muslimen, die in Deutschland leben?

Es wäre sicherlich nicht richtig, einseitig zu sagen, nur Muslime hätten ein negatives Bild von Juden. Ich glaube, dass es sehr wohl auch jüdische Menschen gibt, die mit zu viel Skepsis Muslimen gegenüberstehen. Hier spielen Erfahrungen eine Rolle, die vor allem aus Israel kommen. Viele haben Verwandte dort. Und eine Auseinandersetzung, wie wir sie in Israel über Jahrzehnte kennen, hat nicht dazu beigetragen, das gegenseitige Vertrauen zu stärken.

Bei der Frage „Was ist Integration?“ gibt es auch die These, dass Gesellschaften und Gemeinschaften moderneren Typs nicht mehr so homogen, abgeschlossen und in sich kohärent seien, wie man das von früheren kennt, sondern dass moderne gesellschaftliche Identität ein Konglomerat sehr verschiedener Aspekte sei. Wie verträgt sich das mit der traditionell eher in sich geschlossenen jüdischen Kultur? Oder stimmen beide Teilbilder nicht?

Von einer geschlossenen jüdischen Kultur möchte ich nicht sprechen. Allein deshalb nicht, weil Sie auch im Judentum völlig unterschiedliche Kulturelemente finden, je nachdem, welche Abstammung jemand hat. Viele jüdische Zuwanderer bringen ganz andere kulturelle Traditionen mit, als ich sie von meiner Familie kenne, die über Jahrhunderte im fränkisch-hessischen Grenzgebiet zu Hause ist. Inzwischen gibt es aber auch in unserer Familie neue kulturelle Einflüsse, weil die Eltern meiner Schwiegertochter aus Marokko und Israel stammen. Also es gibt nicht die jüdische Kultur. Sondern es gibt ganz verschiedene Kulturelemente, die sich zusammengefunden haben und noch zusammenfinden. Ein ähnliches Bild haben wir auch in der Gesamtgesellschaft. Die deutsche Gesamtgesellschaft ist in keiner Weise homogen. Wenn man die Bevölkerungsstruktur der vergangenen 70 Jahre betrachtet, dann hat sie sich, ganz unabhängig von der Zuwanderung muslimischer Menschen, sehr verändert.

Sie haben einmal aus dem Zweiten Buch Mose zitiert: „Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken. Ihr wisst ja, wie einem Fremdling zumute ist. Fremdlinge wart ihr im Land Ägypten“. Der Auszug der Kinder Israel, die jüdische Fluchtgeschichte. Bedeutet das, dass Juden ein besonderes Verständnis und eine historische Fähigkeit haben, mit Migration, mit Flüchtlingen, mit kultureller Integration und Neuanfang umzugehen?

Da brauchen wir gar nicht bis zum Zweiten Buch Mose zurückzugehen. In vielen jüdischen Familien ist das Thema Flucht nun nichts Außergewöhnliches. Wie viele jüdische Menschen hatten die Möglichkeit, nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland verlassen zu können? Sie waren nichts anderes als Flüchtlinge und kamen quasi mit dem nackten Leben davon. Mein Vater und meine Mutter kamen damals so in Palästina an und mussten sich dort eine neue Existenz aufbauen.

Sicherlich glaube ich, dass die Situation nicht mit der der jetzigen Flüchtlinge aus den muslimischen Ländern eins zu eins vergleichbar ist. Denn zum Beispiel kamen meine Elternteile in eine Region, die jüdisch geprägt war. Es wäre daher jetzt die Aufgabe der muslimischen Verbände und Gemeinden, die Menschen, die nach Deutschland kommen, hier aktiv zu integrieren. Das geht natürlich nur, wenn diese Gemeinden selber bereit sind, das deutsche Wertesystem als verbindlich zu akzeptieren. Leider entspricht die Predigt von manchem Imam nicht dem, wie wir uns ein Zusammenleben vorstellen.  In einigen Moscheegemeinden, vor allem unter dem Dach von DITIB, wird Hass gegen Juden und Israel vermittelt. Wenn das auf deutschem Boden geschieht, ist das für mich besorgniserregend.

Sie haben 2015, zu Beginn der großen Flüchtlingsbewegung, gesagt: „Uns steht ein Marathon bevor.“ Ein Marathon sind 42 Kilometer. Bei welchem Kilometer sind wir im Moment?

Ohne dass ich Ihnen jetzt eine Kilometerangabe nenne – die Erfahrung, die wir in den eigenen Gemeinden gemacht haben, wenn es um Integration geht, ist: Sie gelingt vollständig erst in der zweiten oder dritten Generation. Die Generation, die entweder als Kinder nach Deutschland kam oder in Deutschland geboren ist, die also jetzt 20 bis 35 Jahre alt ist, ist integriert, ohne Wenn und Aber.

Vielen Dank.

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