Dmitrij Belkin 14. März 2017 Logo_Initiative_print.png

Ger­ma­nija

Jüdisch und erwach­sen in Deutschland

Der 22-jährige Sohn eines jüdischen Vaters und einer nicht jüdischen Mutter, ein Perestroika-Kind der späten Sowjetunion, wachte 1991 im neuen Staat Ukraine auf und reiste im Dezember 1993 nach Deutschland aus. Er hatte drei Taschen dabei, einige Bücher, darunter Schelling und Heidegger auf Russisch – der junge Mann wollte in Deutschland Philosophie studieren. Der frisch gebackene jüdische Kontingentflüchtling hatte auch ein Diplom als Historiker in der Tasche. Er hat die Universität absolviert und die liberalen Glasnost-Ideale aufgesaugt.

Der Kontingentflüchtling verbrachte acht Monate in einem furchtbaren Wohnheim in Reutlingen. Den rechten Flügel bewohnten die Vietnamesen, den linken die Juden. Interkulturelle Konflikte gab es keine, manchmal verschwand die billige Wurst (Schweinefleisch, koscher kam viel später) aus den Etagenkühlschränken, doch diese Probleme waren eher intern verursacht und nicht interkulturell. Auf dem Amt hing ein Plakat „Alle Menschen sind Ausländer!“. Der Einwanderer realisierte: Einige sind es doch noch mehr. Der junge Mann strebte ein widersprüchliches Zweierlei an, nämlich: zurück, um das untergegangene Land zu retten. Und nach vorne, um in Tübingen weiterzustudieren. Seine Frau, die acht Monate später kam – die Wiedervereinigung der Familien ist eine recht wichtige Institution für die neuen Deutschen, auch für die heutigen Flüchtlinge – plädierte klugerweise für die zweite Variante: die des Bleibens. In Tübingen studierte der Mann osteuropäische Geschichte und Philosophie. Er promovierte. Das Bild Russlands hier enttäuschte ihn. Der Kalte Krieg wurde akademisch weitergeführt, doch der Mann wollte seine liberale Sowjetunion zurück – nicht die Kritik des Stalinismus. Der Mann wurde einsam. Er ließ sich taufen und integrierte sich zunächst in die russische orthodoxe Kulturgemeinschaft. Sie kam ihm aber bald nationalistisch und ebenso verloren vor wie er selber. Zu dieser Zeit war Deutschland nach vier bis fünf Jahren das Land der Erweiterung seiner Lebensperspektive, der niedlichen Berge und des fehlenden Winters. Aber nicht das Land seiner Seele.

Irgendwann, realisierte der Mann gegen Jahrtausendwende, steht man etwas seltsam da. Man kann nicht mehr zurück, die Sowjetunion existiert nicht mehr, mit der Ukraine hat man nicht viel zu tun, in Deutschland fühlt man sich schlecht – als Migrant und als Fremder. Und erst dann, verstand der Mann, fragst du, was du denn bist, wenn du ganz nackt und ganz allein dastehst? Dann kam bei ihm die eindeutige Antwort: ein Jude. Diese Antwort führte dazu, dass der Mann sich entschloss, mit seiner Familie diesen Weg zum Judentum zu machen. Denn er war nicht mehr für sich allein verantwortlich – der kleine Sohn war da und mit ihm die Frage: Wie soll er denn aufwachsen? Die im Kern areligiöse deutsche Gesellschaft gab die Antwort: „Lieber gar keine Religion, plural erziehen, den Rest werdet ihr sehen“. Das war nicht die Antwort seiner Familie, die sich für einen jüdischen Weg entschied. Hilfreich war dabei die weltoffene, kapitalistisch-literarische Stadt Frankfurt, ihre jüdische Gemeinde und die neuen Freunde. Wichtig waren die Reisen nach Amerika und Israel, die eine bisher unbekannte jüdische Vielfalt öffneten und den Mann zwangen, sich mit Deutschland als seinem Land auseinanderzusetzen. Denn die Frage „Wie hart hast du es als Jude in Deutschland?“ bekam er im Ausland oft gestellt und musste sein neues Land, dessen Pass er inzwischen besaß, rechtfertigen. Seine Eltern waren inzwischen auch da. Sie putzten Toiletten auf Tankstellen. Zugegeben: nicht optimal für Ingenieure, doch deutlich besser als allein in einer leeren Wohnung zu sitzen.

Es war auch eine Rechtfertigung Deutschlands nach innen angesagt: Die Generation der 1968er hat dem Mann den Diskurs über das „Scheißland“ beibringen wollen – er wollte und will diesen Diskurs nicht zu seinem machen. Der Mann und seine Familie suchten und fanden ihr Judentum und ihr Deutschland. Parallel dazu suchte der Mann die Öffentlichkeit, um die Geschichten der neuen deutschen Juden zu erzählen. Er kuratierte im Jüdischen Museum Frankfurt eine Ausstellung „Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik“. Die neue jüdische Gemeinschaft, zu 90 Prozent aus „Russen“ bestehend, nannte er: „Deutsches Judentum 2.0“. Es gab Kritik an diesem Namen: „Nie wieder kann sich ein Jude mit Deutschland identifizieren“. Und was, wenn doch?

Anschließend kam der Mann nach Berlin, um für ELES, ein jüdisches Studienwerk, zu arbeiten und den Stipendiaten seine Erfahrungen weiterzugeben und von ihren zu lernen.

Über Deutschland habe ich ein Buch geschrieben: „Germanija. Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde“. Wobei mir das Erwachsensein im Titel und im Leben zentral zu sein scheint. Der Gedanke über die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen, „erwachsenen“ Agierens in der Gesellschaft ist zugleich mein Beitrag zum Thema kulturelle Inte­gration. Denn irgendwo dort, wo man sich den Anderen öffnet und auch ihre Zuneigung spürt, sind die Konturen von einem schwierigen, schönen Etwas deutlich zu vernehmen, das man die „Heimat“ nennt, ohne ein mulmiges Gefühl beim Artikulieren dieses Wortes zu bekommen.

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