Andrea Nahles & Hans Jessen 7. März 2017 Logo_Initiative_print.png

Arbeit und Kul­tur – untrenn­bar verwoben

Hans Jes­sen im Gespräch mit der Bun­des­ar­beits­mi­nis­te­rin Andrea Nahles

Andrea Nahles ist ebenfalls eine der Initiatorinnen der Initiative kulturelle Integration. Der Journalist Hans Jessen spricht mit ihr über Integration durch Arbeit, die Angst vor Überfremdung und vieles mehr.

Hans Jessen: Frau Nahles, bei der Vorstellung der Initiative sagten Sie: „Arbeit ist der Schlüssel zum Gelingen der Integration.“ Was meinen Sie damit? Warum ist Arbeit der Schlüssel? Andere halten ja eher Kenntnisse der deutschen Sprache für den Schlüssel.
Andrea Nahles: Beides ist wichtig. Sprache ist die Grundvoraussetzung, um sich miteinander zu verständigen. Und der Moment, in dem man zum Kollegen oder zur Kollegin wird, trägt eine große Chance in sich. Durch das Miteinander im Alltag findet ein Austausch statt, der alles einfacher macht, das Sprachelernen und auch das Zusammenleben. Wo sonst kann man die Eigenheiten eines Landes, das einem zunächst fremd ist, so schnell und so gut kennenlernen? Arbeit ist ein großer Teil unserer Kultur – in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern. Wer arbeitet, ist nicht passiv, sondern aktiv. Man kann selbst einen Beitrag leisten in einem neuen Land, in dem man versucht, Fuß zu fassen. Bei uns in der Eifel sagt man beispielsweise den schönen Satz: „Den kann ma jebrauche“. Das heißt soviel wie: Der packt an, der macht mit, der will Teil der Gemeinschaft sein. Als eine geflüchtete Familie mit vier Kindern zu uns ins Dorf kam und über den Vater gesagt wurde „Den kann ma jebrauche“, war das für mich das beste Zeichen dafür, dass die Familie in der Dorfgemeinschaft angekommen war.

Für Sie ist also eine bestimmte Haltung zur Arbeit schon Bestandteil von Kultur, wenn man Kultur als Lebensweise ansieht?
Ja. Arbeit ist ein ganz wesentlicher Teil unserer Kultur in Deutschland. Arbeit und Kultur sind untrennbar miteinander verwoben. Ich will Ihnen noch ein Beispiel nennen: Eine der großen Schwierigkeiten in den Integrationskursen besteht darin, den Menschen die Bedeutung unserer dualen Ausbildung zu vermitteln. Ein Viertel der Menschen, die aus den acht wesentlichen Herkunftsländern zu uns gekommen sind, haben einen Hochschulabschluss. Ein weiteres Viertel hat hingegen überhaupt keinen Abschluss, ist aber zum allergrößten Teil noch sehr jung. In ihren Heimatländern, in Afghanistan, Syrien, im Irak oder in Eritrea, gibt es das System der dualen Ausbildung schlichtweg nicht. Sie verstehen daher auch nicht, welcher Stellenwert dem deutschen Facharbeitertum hier zukommt. Das zu erklären, ist kulturelle Übersetzungs- und schwere Überzeugungsarbeit. Erklären Sie jemandem, dessen Verständnis von Verantwortung darin besteht, schnell Geld für sich und seine Familie zu verdienen, dass es sich lohnt, in eine Ausbildung zu gehen, obwohl er dann zunächst einmal weniger Gehalt bekommt. Ich erinnere mich auch sehr gut an einen syrischen Mann, der vor mir regelrecht auf die Knie gegangen ist, um nicht an einem fünfwöchigen Erprobungskurs bei der Handwerkskammer Koblenz teilnehmen zu müssen. Dabei ging es lediglich darum, sich von seinen Fertigkeiten zu überzeugen, nachdem er angegeben hatte, er sei Bäcker. Das prüft die Handwerkskammer, damit er auch tatsächlich als Bäcker arbeiten kann. Anschließend kann er sofort eine Arbeit aufnehmen, und zwar eine gute. Er selbst war aber davon überzeugt, dass er mit seinem 400-Euro-Aushilfsjob bereits bestens versorgt sei. Wir hingegen setzen auf die Perspektive, langfristig einen guten Job zu finden.

Fühlt die Arbeitsministerin sich vielleicht auch deswegen für Integration zuständig, weil Integration selbst Arbeit ist?
Wohl wahr, das gilt aber nicht nur für mich (lacht). Ich habe das im letzten Jahr erlebt, als es darum ging, zahlreiche Gesetze anzupassen, die unsinnige und praxisferne Vorschriften enthielten. Z. B., dass man als geduldeter Flüchtling keine Ausbildung mehr beginnen durfte, wenn man älter als 21 Jahre alt war. Das ist Quatsch. Warum sollte ein 25-Jähriger nicht mehr Kfz-Mechatroniker werden können, wenn es einen Betrieb gibt, der ihn gern ausbilden möchte? Das sollen die Betriebe selbst entscheiden können. Wir haben diese Altersgrenze deshalb abgeschafft. Diese und andere Erleichterungen zur Integration in den Arbeitsmarkt waren mit mühevoller Überzeugungsarbeit verbunden. Insbesondere konservative Innenpolitiker sahen in vielem nur sogenannte Pull-Faktoren, also zusätzliche Anreize, nach Deutschland zu kommen. Aber die Menschen sind ja nun hier, also müssen wir auch so damit umgehen, dass es hier gelingt. Die eigentliche Integrationsarbeit beginnt erst jetzt. Es geht darum, all diejenigen, die bislang in Integrationskursen saßen, auch in Arbeit zu bringen. Das ist eine große Aufgabe, ein Marathon und kein Sprint.

Ich möchte nochmal nachfragen, was für Sie kulturelle Integration eigentlich bedeutet, darunter ließe sich ja sowohl die Integration in eine bestimmte Lebensweise verstehen als auch die Einbeziehung in bestimmte Kulturebenen wie Musik, Literatur und Kunst. Was ist es für Sie?
Kulturelle Integration bedeutet für mich die Bereitschaft, einen Weg für ein gutes Miteinander der Kulturen zu finden, ohne seine eigenen Wurzeln und Überzeugungen aufgeben zu müssen. Sich in der Kultur eines Landes zurechtzufinden und einzugliedern bedeutet also nicht, dass man seine Herkunft leugnet oder verwischt. Es geht vielmehr um ein Zusammenführen von Kulturen. In meinem Wahlkreis in Andernach beispielsweise gab es früher eine leerstehende französische Kaserne. Dort wurden 6.000 Russlanddeutsche einquartiert. Es waren Mennoniten, denen aus religiösen Gründen nicht erlaubt ist, an Musikveranstaltungen oder Festen teilzunehmen. Trotzdem haben sie sich gut in die bestehende Gemeinschaft integriert. Und zwar über den Sport. Andernach hat seitdem beispielsweise eine Top-Turner-Abteilung. Gleichzeitig wurde ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Religion auch bei uns zu leben. Sie durften auf einem Grundstück der Stadt ihre eigene Kirche bauen. Das verstehe ich unter gelebtem Miteinander. Es gibt viele Wege für ein gutes Miteinander, bei jedem sieht er vielleicht ein bisschen anders aus. Es kann über den Sport laufen, die Musik, die Arbeit. Es geht darum, die Offenheit auf beiden Seiten aufzubringen, den Weg gemeinsam zu finden.

Aber wird nicht gerade das von Teilen der Gesellschaft, die sich politisch nach rechts orientieren, abgelehnt?
Leider ja. Aber eine Gesellschaft ist dann besonders stark, auch ökonomisch, wenn sie zusammenhält, wenn sich ihre Mitglieder auf Augenhöhe begegnen, wenn sie Perspektiven schafft und jedem Einzelnen die Chance gibt, dass er etwas erreichen kann, wenn er sich anstrengt. Egal, ob er hier geboren und aufgewachsen ist oder ob er unlängst zu uns gekommen ist. Genau das zeichnet unsere Gesellschaft aus und darauf bin ich stolz. Klar ist auch, dass unsere Gesellschaft über verbindliche Regeln verfügt.

Sie sind in unserer Verfassung niedergelegt und alle, die bei uns Schutz suchen oder aus anderen Gründen zu uns kommen, haben sich an diese Regeln zu halten. Eine Gesellschaft darf also durchaus etwas erwarten von denjenigen, die zu uns kommen. Ich war und bin deshalb auch davon überzeugt, dass das Prinzip des Förderns und Forderns für alle gelten muss. Aber: Wer kulturelle Integration als Einbahnstraße versteht und von den Menschen fordert, ihre Herkunft, ihre Geschichte und damit einen großen Teil ihres Selbstverständnisses aufzugeben, der spaltet und sorgt für Konfrontation statt Integration. Das halte ich für sehr gefährlich.

In dieser Diskussion war immer wieder die These zu hören, man befürchte eine Überfremdung unserer Kultur durch massenhaften Zustrom. Es gibt offenbar wachsende Teile der deutschen Bevölkerung, die Integration grundsätzlich ablehnen – es sei denn, sie findet in Form von Assimilation statt. Woran liegt das? Und wie geht man damit um? Beziehungsweise: Wie gehen Sie damit um?
Die Stärke unseres Landes und unserer Wirtschaft begründet sich auch historisch gesehen in hohem Maße auf Integration und Zuwanderung. Und für die Zukunft unseres Landes wird dies umso mehr gelten. Auch vor diesem Hintergrund halte ich eine Totalverweigerung für gefährlich und kurzsichtig. Aber sie ist trotzdem ernst zu nehmen. Wir müssen für unsere Position werben, ins Gespräch kommen, Begegnung organisieren, Vorurteile abbauen, auch und vor allem über Arbeit. Ich stelle häufig fest, dass Vorbehalte in Respekt oder gar Sympathie umschlagen, wenn es einen persönlichen Kontakt gibt. Denn bei allen Vorbehalten im Allgemeinen gibt es doch die konkrete Offenheit für den Einen.

Diese Offenheit zu fördern und sie im Alltag spürbar zu machen, ist unser gemeinsames Ziel. Eben deshalb freue ich mich über die Initiative kulturelle Integration, die hierzu gewiss einen großen Beitrag leisten kann und wird.

Dankeschön.

Copyright: Alle Rechte bei Initiative kulturelle Integration

Adresse: https://www.kulturelle-integration.de/2017/03/07/arbeit-und-kultur-untrennbar-verwoben/